Sind die Visaerleichterungen für Erdbebenopfer an zu hohe Hürden geknüpft? Ein Stuttgarter Rechtsanwalt und Migrantenorganisationen meinen ja. Das Auswärtige Amt verteidigt sein Vorgehen.
Angesichts der Erdbebenkatastrophe im türkisch-syrischen Grenzgebiet hat die Bundesregierung Visaerleichterungen für Erdbebenopfer verkündet. Sofern ihnen Obdachlosigkeit droht oder sie Verletzungen davon getragen haben sollen sie für maximal 90 Tage bei Verwandten in Deutschland unterkommen können. Diese Regelung gilt für Angehörige ersten und zweiten Grades. Migrantenverbände und viele hier lebende Menschen mit türkischen Wurzeln begrüßten dies als wichtige humanitäre Geste.
Können nur wenige Erdbebenopfer die Voraussetzungen erfüllen?
In der Praxis ergeben sich jedoch Schwierigkeiten. Darauf hat der Stuttgarter Rechtsanwalt Engin Sanli hingewiesen, der sich aktuell ehrenamtlich in Istanbul aufhält, um dort gemeinsam mit türkischen Anwaltskollegen auszuloten, wie praktikabel das Verfahren ist. Sein Eindruck: es gibt viele Hürden, die dazu führen könnten, dass nur sehr wenige Erdbebenopfer nach Deutschland kommen könnten. Problematisch sei vor allem, dass viele Betroffene keine Reisepässe hätten. Die Vorgabe, ihre Notlage schriftlich schildern zu müssen, werde zudem als belastend empfunden. Er hoffe, dass sich das Ganze nicht als Scheinlösung entpuppe. Teils mache sich schon Enttäuschung breit.
Das Auswärtige Amt verteidigt sein Vorgehen. „Wir haben das Visumverfahren für türkische Staatsangehörige zum kurzfristigen Aufenthalt in Deutschland in Abstimmung mit dem Bundesministerium des Innern soweit vereinfacht, wie der bestehende Rechtsrahmen es zulässt“, teilte es auf Anfrage mit. Betroffene müssten weniger Nachweise als im regulären Visumverfahren vorgelegen. Beispielsweise müssten keine Nachweise über die wirtschaftliche Situation des Antragsstellenden erbracht werden, was ein großes Hindernis für Menschen darstellen würde, die von der Katastrophe existenziell betroffen sind.
Auswärtiges Amt versichert: „Die Anträge werden prioritär bearbeitet“
Wie das Auswärtige Amt weiter erklärte, sei die Antragsstellung in sieben Annahmezentren in der Türkei ohne vorherige Terminbuchung möglich. Die sonst übliche Visumgebühr entfalle, lediglich ein Service-Entgelt, das von dem externen Dienstleister erhoben werde, müsse gezahlt werden.
Gleichzeitig versicherte das Außenamt: „Die Anträge der vom Erdbeben betroffenen Personen werden prioritär bearbeitet.“ Wie schnell die Bearbeitung erfolgen könne, hänge auch davon ab, wie viele Personen die Möglichkeit der erleichterten Einreise nutzen würden. „Wir peilen eine Bearbeitungsdauer von fünf Arbeitstagen an“, hieß es im Auswärtigen Amt. Bei regulären Visaanträgen für kurzfristige Aufenthalte dauere die Bearbeitung länger. So habe das Generalkonsulat Istanbul zuletzt 15 Arbeitstage für die Bearbeitung benötigt.
Kritische Stimmen wurden am Montag auch von Migrantenorganisationen laut. Die Visaerleichterung sei grundsätzlich zu begrüßen, „in der Praxis erweist sich diese Entscheidung jedoch als kaum hilfreich“, erklärte die Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen in Deutschland. Die bürokratischen Hürden seien viel zu hoch. Für betroffene Syrer in der Türkei und in Syrien sei die Beantragung eines Visums nahezu unmöglich. Der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Aslıhan Yeşilkaya, forderte, bürokratische Hürden abzubauen und das Personal massiv aufzustocken. Länderübergreifend müssten die Behörden jetzt an einem Strang ziehen, um den schwer traumatisierten und teils verletzten Menschen schnell ein Dach über dem Kopf zu sichern. Die Bundeskonferenz der Migrantenorganisationen nahm den Flüchtlingsgipfel zum Anlass, eine zügige Nachbesserung der neuen Regelungen zu fordern.