Das Haus besitzt keine Klingel. Wer zu Walter Hörnstein will, braucht nur die Klinke runterzudrücken und die Türschwelle zu passieren. Drei Augenpaare schauen dem zögernden Besucher dabei zu, drei Baumstämme mit menschlichem Antlitz neben der Eingangstür, die zu sagen scheinen: „Hier bist du richtig.“
An Metzger Hörnstein führt kein Weg vorbei. Wer nach Höfingen will, ein Ortsteil von Leonberg, der fährt direkt auf sein massiges Gasthaus an der Kehre zur Ortsmitte zu. Vor 500 Jahren ließen die Adligen in der einstigen „Herrschaftlichen Kelter“ ihre Trauben pressen – das Höfinger Schloss liegt nur einen Steinwurf entfernt. Von dort führt ein unterirdischer Gang hierher. Schon damals suchten Menschen, wenn Ungemach drohte, Zuflucht in diesem Haus.
Verschiebung der Wahrnehmung
Bei jedem eintretenden Gast muss der Hausherr zunächst ein Pfützchen aufwischen. Sarah, seine kleine Hündin, kommt an manchen Tagen kaum hinterher mit dem Markieren ihres Reviers, wenn sich die Besucher die Klinke in die Hand geben. Sie kennen den Weg in den ehemaligen Schankraum am Ende des Ganges, vorbei an der leeren Verkaufstheke der einstigen Metzgerei, vorbei an weiteren mannshohen Holzskulpturen, die einen mit großen Augen wissend anblicken und etwas erzählen wollen. Still ist es hier. Bis auf das Telefonkabel führt keine Leitung nach draußen. Auf diesen wenigen Metern verschiebt sich etwas in der Wahrnehmung.
Im Schankraum stehen je nach Tageszeit Kaffee und Hefezopf oder Wein und Griebenschmalzbrote bereit. Der Hausherr setzt sich ans kurze Ende des Tisches, schenkt ein und lehnt sich zurück. Er blickt seinem Gast offenherzig in die Augen und sagt „Ja, ja“, nicht seufzend, sondern in einer zuversichtlichen Dur-Tonart. Dann wird er still, und gemeinsam wartet man darauf, was als Nächstes passiert.
Sie kommen zu ihm aus allen Gesellschaftsbereichen – Bürgermeister, Bankdirektoren, Richter, Künstler, Politiker wie der Ex-Justizminister Ulrich Goll (FDP), Guido Wolf von der CDU, Unternehmer wie Erwin Staudt. Und dann natürlich die Höfinger, die Alten, die Geschiedenen, Verwitweten, Verwirrten. Manche kommen mit schwerem Gepäck, mit akutem Weltschmerz, manche wollen gar nicht viel reden. In der holzvertäfelten Stube, unter dem milden Blick des schweigsamen Zuhörers kommen alle irgendwie zur Ruhe. „Das ist schon ungewöhnlich, wer da alles seine Nähe sucht“, sagt Karl Geibel. Er war lange Journalist in Leonberg und kennt den Höfinger seit vielen Jahren. „Der Hörnstein spricht mit seiner naiven Art – im besten Sinne – eine jede Menschenseele an.“
Ein zweites Leben voller innerer Freiheit
Der schmale Mann mit der randlosen Brille war nie ein gewöhnlicher Metzger. Seine Maultaschen sind preisgekrönt, seine Salamis wurden schon in deutschen Botschaften in Burma, Ägypten und im Sudan serviert. Doch da ist noch eine andere Energie, die über die Hingabe für raffinierte Fleischbrätrezepturen hinausgeht. Der 83-jährige Hörnstein macht Kunst, wann immer er Zeit und Kraft dafür findet. Seine rund 300 Holzskulpturen haben das ganze Haus eingenommen – bis in die Kühlkammer, wo mal Schweinehälften an groben Haken hingen.
Jede erzählt etwas von seinem Leben, von Kümmernissen und von Freuden. Keine davon gibt er her, auch nicht für Geld, bis auf wenige Ausnahmen. Das gibt eine Menge Brennholz, wenn der mal nicht mehr ist, sagen böse Zungen in Höfingen. Was nicht alle im Dorf wissen: Die Skulpturen entstammen einem Schaffensdrang, der Walter Hörnstein vor 23 Jahren ein zweites Leben beschert hat, eines voller innerer Freiheit.
Im ersten Leben blieb ihm wenig erspart. Im Jahr 1939, gleich nach seiner Geburt und der seines Zwillingsbruders, zieht der Vater, Metzgermeister Adolf Hörnstein, in den Krieg. Als er wiederkehrt und den Nachwuchs beschaut, ernennt er Walter, den kräftigeren Zwilling, zum Nachfolger. Nach der Volksschule ist daher Schluss. Dabei hätte der musisch begabte Bub gern weitergelernt. Klavierstunden kommen auch nicht infrage. „Lesen, Schreiben, Malen, das alles war dem Vater ein Graus“, erinnert sich Hörnstein. Als der Junge ein Blumenornament schnitzt, wirft es der Vater weg. Denn im damaligen Höfingen macht sich zum Gespött, wer gebildet oder kreativ daherkommt.
Walter Hörnstein geht beim Vater in die Lehre, der seinen Beruf nicht gern ausübt und rasch in Rente will. Mit 27 Jahren übernimmt sein Sohn den Betrieb. Die folgenden Jahre verlangen diesem viel ab. Seine Frau verlässt ihn gleich nach der Hochzeit, die beiden Kinder, fünf und acht Jahre alt, lässt sie aber bei ihm. Den Alltag bestreitet er mit Hilfe der Haushälterin Marta. Es geht drunter und drüber, die Kinder bereiten ihm Sorgen, die Behörden, die Finanzen.
Japanische Forscher reisen an
Diese Zeit geht an der Gesundheit des Metzgers nicht spurlos vorüber. Im Oktober 1989 will eine Schwellung am Knöchel nicht abheilen. Die Ärzte im Leonberger Krankenhaus diagnostizieren Krebs. Sie schneiden ihm den Bauch auf und finden überall Geschwüre. „Ein Weihnachten wird’s nicht mehr geben“, sagen sie. Walter Hörnstein lässt alles liegen und besinnt sich auf das, was ihm bisher am meisten gefehlt hat. Er besorgt sich einen CD-Player und Farben zum Malen. Verwandte halten das für verschwendetes Geld. „Für die paar Wochen.“
Walter Hörnstein hört Klassik, querbeet, und malt dazu wässrige Aquarelle. „Ich war weit weg von allem, habe nichts gedacht“, erzählt er. Weihnachten kommt und geht. Im März schauen die Ärzte noch mal nach. Die Geschwüre sind weg. Die Computertomografie wird zur Sicherheit wiederholt. Japanische Forscher reisen an, um sich das Wunder anzuschauen. Wie er das gemacht habe, fragen sie ihn. Seine Antwort: „Ich habe in mich hineingehorcht.“
Im Frühjahr macht er seinen Betrieb wieder auf, aber nur noch für vier Tage. Den fünften Tag verbringt er „in einem anderen Zustand“, wie er sagt. „Wo man Dinge spürt und anders sieht.“ Wie ein Besessener schnitzt er Holzskulpturen, verarbeitet darin, was ihm widerfahren ist. Das Bauamt erscheint in Form einer Schlange, Gerichtsbeamte hocken links und rechts auf seinen Schultern. Die Kunst verleiht ihm Kraft. Er organisiert einen Kunstmarkt in Höfingen und werkelt mit jugendlichen Straftätern im Seehaus Leonberg.
Die künstlerische Arbeit schärft die Sinne des Autodidakten. Wenn er über die Felder läuft, findet er 8000 Jahre altes Werkzeug – Feuersteinmesser, Pfeilspitzen oder Schaber. „Danach darf man nicht suchen. Man findet nur etwas, wenn man alles fallen lässt, auch das Wollen“, sagt er. Auf der Schwäbischen Alb fällt ihm beim Spaziergang ein quaderförmiger Stein auf. Er bringt ihn zur Untersuchung ins Rosensteinmuseum. Die Mitarbeiter entdecken darin einen besonderen Krebs, eine unentdeckte Art. Zum Dank schenken sie dem Finder einen großen versteinerten Ammoniten. Die Lokalpresse berichtet immer wieder über ihn.
Bilder vom furzenden Erwin und vom flennenden Viehbauern
Der Trubel um ihn hat sich inzwischen gelegt. Aber die Anziehungskraft ist geblieben. Hörnstein kennt wie kein anderer die Seelen der Höfinger. Er studierte sie schon als Bub, wenn er sich im Wirtshaus der Metzgerei rumtrieb. Manche hat er später skizziert. Den Erwin mit dem steifen Bein, der immer im selben Eck saß und ständig furzte. Die Marie, die ihren betrunkenen Gatten immer mit dem Schubkarren aus dem Wirtshaus abholte. Bauer Gutschler, der flennte, wenn er einen Stier zum Schlachten brachte. Haushälterin Marta, wie sie vom Heuwagen aus in den Garten der Immlers schaute, einer Fabrikantenfamilie, und sie beim Kaffee erwischte, am helllichten Tag. Oder die Höfingerinnen auf dem Wochenmarkt, wie sie die Köpfe zusammenstecken und tuscheln.
Seit ein paar Monaten meldet sich der Körper wieder. Eine neue Herzklappe musste rein. Die Hüfte bereitet Schmerzen, vermutlich vom vielen Drucken der Holzschnitte. „Da hab ich’s bissle übertrieben“, sagt er. Deshalb male er jetzt wieder wie am Anfang, mit Aquarellfarben. Die Tür schließt er jetzt manchmal ab, um sich auszuruhen.