Der Buchhändler Klaus Krüger kämpft für den Erhalt einer alten Linde im Hof des Klosters Maulbronn. Mit dem Baum, meint er, würde ein Stück Geschichte verschwinden.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Maulbronn - Hermann Hesse schreibt: „Bäume sind wie Einsame. Wie große, vereinsamte Menschen. Wenn wir traurig sind und das Leben nicht mehr gut ertragen können, dann kann ein Baum zu uns sprechen: ,Sei still! Sei still! Sieh mich an! Leben ist nicht leicht, Leben ist nicht schwer. Das sind Kindergedanken.‘ Wer gelernt hat, Bäumen zuzuhören, begehrt nichts zu sein, als was er ist. Das ist Heimat. Das ist Glück.“

 

Hesse war 1891 Zögling im Maulbronner Seminar. Er hat gesehen, wie die Klosterbrauerei in jenem Jahr elektrisches Licht bekam, er half löschen, als das Pfründhaus brannte. Er kannte die Linde im vorderen Klosterhof, als sie jung und zierlich war. Jetzt ist sie dem Tod geweiht. „Sie darf nicht fallen“, sagt Klaus Krüger, 74, der einen Schattenwurf vom Baum entfernt aufwuchs.

So alt wie die Linde, so alt ist die Geschichte der Krügers in Maulbronn. Sie war da, als August Krüger 1899 die Buchbinderei im Kloster übernahm, dort bald auch Stumpen und Zeitschriften wie „Daheim“, „Jugend“, „Gartenlaube“ oder den „Simplicissimus“ führte. Nebenbei machte er sich einen Ruf als Tapezierer und Kuppler.

Ein Kampf gegen das Siechtum

Die Linde war da, als er 1938 an seinen Sohn Kurt übergab. Der hatte in den 20er Jahren in New York gelebt und dann lange als Erbprinz des Betriebs ausgeharrt. Während des Kriegs – und im Grunde auch, nachdem Kurt aus der Gefangenschaft zurückgekehrt war – schmiss seine Frau Julie, gelernte Handarbeitslehrerin aus Nürtingen, das Geschäft. Es florierte. Man hatte jetzt Büroartikel und für die amerikanische Kundschaft Steiff-Teddybären, Schneekugeln, Wetterhäuschen aus dem Schwarzwald oder Dürers „Betende Hände“ aus Plastik im Sortiment. Kurt Krüger gönnte sich jede Woche eine Einkaufstour nach Stuttgart, ging gern zum Baden, Kneippen, Kartenspielen, Kegeln und Tanzen. Julie las abends lieber.

Die Linde war da, als der einzige Nachkomme Klaus 1967 Chef wurde und aus dem Schreibwarenladen eine Buchhandlung machte. Seit Jahrzehnten geht sein erster Blick am Morgen zu der Linde hin. Sie ist sein Anfang. Doch nun soll sie weg. Im vergangenen Sommer stellte ein Gutachter fest, dass sie tödlich geschädigt ist: Höhlungen in der Krone, die Belastungsdichte erheblich reduziert. Ausgedehnte, fortschreitende Fäulnis im Stamm, Pilzbefall mit unumkehrbarer Zerstörung des Wurzelbereichs.

Vor 50 Jahren hatte Klaus Krüger den Baum schon einmal gerettet. Der Klosterhof war asphaltiert worden bis einen Meter an den Stamm. Ein Bitumenkorsett, das die Linde zuschnürte. Krüger gab keine Ruhe, bis Bauhofmitarbeiter mit Pressluftmeißeln eine Not-OP machten. Danach trieb die Kahle wieder Blätter aus. Jetzt hat er erneut versucht, gegen das Siechtum anzukämpfen. Er hackte den Boden auf. Die fest getrocknete Lehmoberfläche war so hart, da sickerte kein Tropfen durch. Drei Wochen hing die Linde am Tropf, Krüger nährte sie mit 1000 Litern Wasser. Er schrieb dem Bürgermeister: „Geben Sie dem Baum eine Chance. Gerade jetzt sollten wir ihm fachliche Pflege angedeihen lassen.“ Er bot finanzielle Hilfe an, legte eine Maßnahmenliste bei –von der Entfernung der einbetonierten Sitzbankhalterungen bis zum Abtragen der oberen Bodenschicht. Dazu 16 Seiten eines Fachbuches, das sich mit Baumvitalisierung beschäftigt.

Die Antwort des Bürgermeisters

„Ihr Plädoyer für die Erhaltung der Linde ehrt Sie“, schrieb der Bürgermeister zurück. „Es wäre schon möglich, die alte Linde noch wenige Jahre stehen zu lassen, sie ständig zurückzuschneiden, permanent zu überwachen und in kurzen Intervallen Standsicherheitsuntersuchungen durchzuführen – also ziemlich viel Geld dafür auszugeben, dass der Baum Jahr für Jahr schrumpft und immer unansehnlicher wird. Aber ist das unsere Vorstellung von würdigem Alter?“

Für Krüger schon. „Sie verdient unseren Respekt“, sagt er. „Sie hat sich noch nie etwas zuschulden kommen lassen. Noch nie haben ihre Äste jemandem geschadet. Immer hat sie sich nur anderen Lebewesen zur Verfügung gestellt.“ Sie spendete Schatten, Kinder tobten in ihrem Herbstlaub, ihre Krone bot Vögeln Schutz und Nahrung. Das Mindeste wäre für Klaus Krüger, die Linde noch den Sommer über, während der Jubiläumsfeiern anlässlich „20 Jahre Weltkulturerbe Kloster Maulbronn“, stehen zu lassen.

Das könnte man machen, so die offizielle Auskunft. Aber nur, wenn die Linde mehr oder weniger geköpft würde und als besserer Pfosten stehen bliebe. Also: besser gleich jetzt den Schnitt machen, damit die Nachfolgerin, die gepflanzt werden soll, im Sommer schon ordentlich aussieht.

Ein Stück Maulbronner Geschichte

Krüger ist kein Querulant. Er will sich den Argumenten auch nicht verschließen. Aber er spürt zugleich, und vielleicht ist es das, was so wehtut: mit der Linde verschwindet wieder ein Stück altes Maulbronn, wie er es noch kannte.

Wo heute das Infozentrum ist, war früher eine Metzgerei mit Wirtschaft. Wenn gemetzelt wurde, roch es nach Blut und Fett – Kindheitsdüfte. Um die Linde herum spielte er Räuber und Bolle. Bei Fliegeralarm saß er mit seiner Mutter im Schutzkeller der Breitlings – in der Gefängniszelle, die jetzt ein Teil des Museums ist. Nach dem Angriff blickte er in einen schaurig-schönen schwefelgelben Horizont: das brennende Pforzheim. Das Kloster blieb unversehrt. Klaus konnte auch in den Kriegsjahren auf der Bockleiter Lindenblüten zupfen, aus denen seine Mutter Tee oder warme Wickel gegen Ohrenweh machte.

1945 kamen die Franzosen mit einer marokkanischen Einheit. Darunter ein Berberhäuptling mit Gefolge. Klaus sah immer zu, wie er sich morgens von seinem schwarzen Diener den Turban wickeln ließ. Wie er mit seinem Krummdolch Hühner schlachtete und sie dann im Klosterhof samt Federkleid über dem offenen Feuer briet.

Das Kloster stirbt aus

In der früheren Klosterschmiede wohnten drei Brüder mit ihrer Schwester. Wenn es was zu löten gab, schickte man Klaus hin. Einen ewig langen stockdunklen Gang entlang bis zu der Nische, wo die Männer jahraus, jahrein, tagaus, tagein bleich wie Mumien im Schein einer mickrigen Funzel saßen, man musste ja sparen. Das waren noch Typen: der Adam, der Wilhelm und der Schorsch.

Vor dem Korbmacherhaus standen riesige Bottiche mit eingeweichten Weiden. Bei der Klostermühle lebte der Totengräber mit seiner Frau, der Leichensägerin. Der Leichenwagen stand in Krügers Remise. Immer, wenn Bauer Jaggy frisch geputzte Pferde einspannte, war klar: jetzt ist wieder einer tot.

Nach dem Krieg kam der Wohlstand. Die meisten Bauern, die im Kloster wohnten, verkauften ihre Äcker und bauten sich draußen ein Häuschen. „Mit ihnen verschwanden die Mauersegler im Klosterhof“, sagt Krüger. Die Lichter gingen aus. In den Verwaltungsgebäuden brennen abends keine Lampen mehr, der Hof ist menschenleer – „tot“, sagt Krüger. Es gibt noch das Seminar. Das ist aber auch nicht mehr wie früher. „Durch die Klosterkonzerte trägt es natürlich zum kulturellen Leben in Maulbronn bei, aber im Grunde ist es eine Insel. Die Internatsschüler sind vollauf mit ihren Aktivitäten beschäftigt und nicht mehr so in den Alltag hier eingebunden.“

Antiquar, Hansdampf, Exzentriker

Früher lebten etwa 150 Menschen innerhalb der Klostermauern, heute sind es vielleicht noch 30. Klaus Krüger ist einer der ältesten. Er war nur ein paar Jahre weg, als er in Genf, dann in Zürich bei einem Buchhändler arbeitete. Dieser weckte in ihm die Leidenschaft für schöne Bücher – und wurde sein Schwiegervater. Die Schweiz, das waren für Klaus Krüger die Bibliophilie, Bergsteigen am Mont Salève, die Chagallfenster im Frauenmünster, Hulda Zumstegs „Kronenhalle“ mit ihrem kunterbunten Künstlerpublikum, die Sammlung Bührle, Baden im Züricher See, das Café Odeon – und Marianne. Er war der erste Maulbronner, der eine Schweizerin zum hiesigen Altar führte. Sie landete als Großstädterin in Kleinstadtverhältnissen. Ihr Mann spricht dezent von „Anlaufschwierigkeiten“. Vielleicht hat Marianne Krüger aus Trotz nie auch nur eine einzige schwäbische Silbe adaptiert. Sie serviert zum Bohnenkaffee – „Welle Si d’Kafi süäss?“ – gute Schweizer Alpenmilchschokolade.

Der einzige Sohn Reto, promovierter Kunsthistoriker, führt heute den Laden. Die Eltern leben in der kleinen Wohnung darüber. Die Bücher, Gemälde, Stiche, Mineralien lassen kaum Platz für Möbel. Klaus Krüger ist belesen, bodenständig, leutselig, eigenwillig. Eine Maulbronner Instanz mit Lederweste und Cordhut. Ein Antiquar, Hansdampf, Exzentriker, Universaltalent, Auskunftsbüro, Seelentröster und Lindenbeschützer.

Er weiß: der Verwaltung sind die Hände gebunden. Wenn es ein Gutachten gibt, das die Sicherheit infrage stellt, dann muss die Stadt handeln. Das ist ihre Pflicht. In Krüger rebelliert es trotzdem. Er sagt, dass man jedes Lebewesen achten und ihm seinen angestammten Platz gewähren sollte. Er will nicht glauben, dass es so gemeingefährlich und wider jeder Vernunft wäre, ließe man den Baum eines natürlichen Todes sterben. „Leben ist immer ein Risiko. Aber eher wird man im Klosterhof von einem Dachziegel erschlagen als von einem Ast“, sagt Klaus Krüger. Nur kann man so halt nicht argumentieren – „nicht in unserer versicherungswütigen Welt“. Solche Ideen gehören nicht in ein Baumsicherheitsgutachten.

Epilog Zwei Tage nach dem Gespräch, am Morgen um 6 Uhr, ist der Baum umgesägt worden. Klaus Krüger wurde von dem Lärm nicht geweckt, eine Nachbarin rief ihn an, als schon alles vorbei war. „Die Linde lag da“, sagt er, „wie ein waidwundes Urtier, das sein Leben ausgehaucht hat.“