Müssen wir Angst haben, wenn Ende Dezember die Urheberrechte für „Mein Kampf“ ablaufen und das Buch nicht mehr unter Verschluss gehalten wird? Ein Gespräch mit dem Stuttgarter Historiker Wolfram Pyta.

Reportage: Robin Szuttor (szu)

Stuttgart - Wären die Jalousien nicht halb geschlossen, man hätte hier im 8. Stock des Stuttgarter Unihochhauses einen großartigen Überblick. Wolfram Pytas Büro zieren ein mausgrauer Teppichboden, drei schnörkellose Zimmerpflanzen, zwei Fotos von Hindenburg, über den er eine aufsehenerregende Biografie schrieb. Auf dem Tisch: eine Jumbotasse Tee, ein Band über den europäischen Fußball im Zweiten Weltkrieg sowie das jüngstes Buch des Historikers: Der Politiker Hitler, so Pytas These, ist undenkbar ohne den Künstler Hitler.

 
Herr Pyta, Ende des Jahres laufen die Urheberrechte für Hitlers „ Mein Kampf“ ab, die bisher der Freistaat Bayern innehatte. Eigentlich müsste das Buch dann frei im Handel erhältlich sein. Oder ist die Schrift zu gefährlich? Müssen wir sie fürchten?
Dies unterstellen die Rechtsextremisten der bayrischen Regierung: das Buch aus Feigheit unter Verschluss halten zu wollen. Aber es spricht einiges dafür, dass die Bundesrepublik Deutschland 70 Jahre nach dem Tod Hitlers demokratisch gefestigt genug ist, um eine Auseinandersetzung mit dem Text ertragen zu können. „Mein Kampf“ ist natürlich mehr als alle anderen gewaltverherrlichenden Bücher symbolisch aufgeladen, steht für Hitler als den Menschheitsverbrecher überhaupt. Aber es ist nicht das Schlüsseldokument für den Holocaust, er wird darin auch nicht explizit als solcher formuliert.
Müssen wir keine Sorge haben, dass die sich neu formierende extreme Rechte das Werk als Anleitung zum Gewaltstaat verwendet?
Natürlich werden jene, die sich als die politischen Erben Hitlers verstehen, das Buch für ihre Zwecke nutzen. Sie können es aber bisher schon. „Mein Kampf“ ist antiquarisch zu erwerben, alles, was Hitler je geschrieben hat, im Internet greifbar.
Also fixieren wir uns auf das falsche Objekt?
In der Tat werden die Quellen, in denen Hitler den Holocaust vor der Weltöffentlichkeit ankündigt, kaum zur Kenntnis genommen, allen voran die Reichstagsrede vom 30. Januar 1939. Sie ist kein Ausrutscher: Hitler hat seine Reden perfekt vorbereitet. Sie sind das Instrument, mit dem er herrscht. Er schreibt jede Rede selbst, der Reichstagspräsident weiß nicht, was Hitler sagen wird, keiner weiß, was Hitler sagen wird. Nur Hitler selbst. Er entwirft Politik nicht aus seinen Texten heraus. „Mein Kampf“ ist eine Ausnahme, eine Art Gefängnisliteratur. Er weiß 1923, dass er den Makel des gescheiterten Politikers abwischen muss durch einen Neustart. Und dafür braucht er aus Imagegründen ein Buch. Bis dahin und auch danach sind es ausschließlich seine Reden, in denen er sich grundsätzlich über Politik äußert. Wer Hitler in den Bereich der Schriftkultur verbannt, stellt ihn an den falschen Ort – und überschätzt ihn in diesem Sinn.
Erscheint es dann nicht überdimensioniert, wenn das Institut für Zeitgeschichte nun eine kommentierte Ausgabe von „Mein Kampf“ herausgibt? Jeder Seite eine Dokumentation gegenüberstellt: Woher hat er dieses Argument? Was bedeutet jener Satz?
Nein, denn hier wird ja Grundlagenforschung betrieben. Die Erkenntnisse der Geschichtswissenschaft sind so lange seriös, solange sie sich an den Quellen bewähren. Modische Trends, dass man nicht mehr in Archive geht oder die Quellen nicht mehr nach dem Original zitiert, zeugen von einer gewissen Nonchalance im Umgang mit dem Material. Insofern ist diese kritische Edition überfällig.