Wenige Bücher werden von so vielen Menschen so geliebt wie „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry. Kann der neue Animationsfilm den entsprechend hohen Erwartungen überhaupt gerecht werden?

Stuttgart - Manche Sätze bleiben haften, egal, aus welchem Zusammenhang sie gerissen wurden. Hier kommt ein Paradebeispiel: „Alle großen Leute sind einmal Kinder gewesen (aber wenige erinnern sich daran).“ Er stammt aus der Erzählung „Der kleine Prinz“ von Antoine de Saint-Exupéry. Und er scheint das Leitbild abgegeben zu haben für Marc Osbornes gleichnamigen Animationsfilm, der am Donnerstag in den deutschen Kinos startet.

 

Dass die Geschichte vom kleinen Prinzen jemals zu solchen Wagnissen Anlass bieten würde, war nicht gleich ausgemacht. Als das Buch 1943 erschien, stellten Rezensenten die Frage, wer bitte schön das denn lesen solle. Zu verspielt für Erwachsene erschien ihnen die vom Autor selbst bebilderte Erzählung, viel zu philosophisch für Kinder. Aber die Kritiker irrten.

Bis heute ist der „Kleine Prinz“ eines der meistverkauften Bücher überhaupt. Es ist ein grandioser Vorläufer jener Bewegung, die auf dem modernen Buchmarkt „All-Ages-Geschichten“ heißt. Etliche Zitate, vor allem „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Alles Wesentliche ist für die Augen unsichtbar“ sind selbst bekennenden Nichtlesern des schmalen Bandes vertraut.

Eine andere Dimension

Der Regisseur Marc Osborne („Kung Fu Panda“) reichert in seiner tricktechnisch brillanten 3-D-Verfilmung die Geschichte um eine ausführliche Rahmenhandlung an. Darin ist das Leben eines braven kleinen Mädchens minutiös durch die Helikoptermama verplant.

Die Begegnung am neuen Wohnort mit einem kauzigen, greisen Nachbarn, einem Ex-Piloten, eröffnet ihm eine andere Dimension. Fantasie, Freiheit und Kreativität stehen hier vor Büffeln, Normen und Disziplin. Im Gegensatz zum grau-sachlich-funktionalen Zuhause gibt es dort Farben, gemütliches Chaos, jede Menge Krimskrams und einen schrottigen roten Doppeldecker im wild wuchernden Garten.

Ein Held der Widersprüche

Eine von mehreren Legenden zur Entstehung des Buches besagt, Saint-Exupéry habe 1942 bei einem Essen mit seinem New Yorker Verleger auf einer Serviette herumgekritzelt und einen kleinen Jungen gezeichnet. Die Figur gefiel dem Amerikaner angeblich so gut, dass er spontan vorschlug, um sie herum eine Art Märchen zu kreieren. Und das, obwohl der blonde Wuschelschopf und dessen Freund, der Fuchs, weder zu den kriegerischen Zeiten noch zum Image des Autors passen wollte. Der war der Öffentlichkeit als waghalsiger Berufspilot bekannt, der seine Erlebnisse in so spannenden wie nachdenklichen Büchern, „Südkurier“, „Nachtflug“ oder „Flug nach Arras“, verarbeitete.

Wunderbar poetisch

Die ästhetischen Gegensätze des Films greifen jene Widersprüche auf, die von Anfang an zur Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des „Kleinen Prinzen“ gehörten. Der alte Nachbar leiht dem kleinen Mädchen handschriftliche Aufzeichnungen seiner Begegnung mit dem kleinen Prinzen.

Diese Fortsetzungsgeschichte innerhalb der Filmhandlung ist im Unterschied zur sonstigen Computeranimation in klassischer Stop-Motion-Technik mit Papier- und Tonfiguren gestaltet. Sie bezieht sich im Design deutlich auf Saint-Exupérys zarte Zeichnungen. Wunderbar poetisch in Szene gesetzt, hebt sie sich ab von der leicht satirisch, aber doch real wirkenden, vom Leistungsdenken geprägten Alltagswelt des Mädchens.

Düstere Ausbeuter

Je mehr das Kind spürt, dass die Realität nicht alles sein kann, desto mutiger wird es. Als der alte Mann erkrankt und möglicherweise für immer gehen muss, bricht es aus, um eine Trennung zu verhindern. Die Drehbuchautorin Irena Brignull greift Motive aus der zuvor gezeigten Geschichte vom kleinen Prinzen auf und lässt das Mädchen mit dem Doppeldecker zu fernen Planeten düsen. In möglicherweise geträumten Szenen trifft es auf düstere Ausbeuter. Die nehmen den Menschen ihre Individualität, bemächtigen sich der Sterne und haben den kleinen Prinzen in einen roboterhaften jungen Erwachsenen verwandelt.

In ihrer Komplexität bezieht die Verfilmung klar ein erwachsenes Publikum mit ein. Aber sie erzählt aus der Perspektive der Protagonistin und bleibt damit eng an der Zielgruppe Kinder. Wenn der kleine Prinz schließlich befreit wird und wieder Kind sein darf, hat sich vielleicht auch die Weigerung des Mädchens gelegt, jemals erwachsen zu werden. Eigentlich geht es ja darum, den unbefangenen Blick der Kindheit zu bewahren.

Plädoyer für Freundschaft

Mit Niedlichkeit aber hat das wenig zu tun. Saint-Exupéry unternahm im Krieg von Korsika aus Aufklärungsflüge für die Alliierten. Von einem kehrte er im Juli 1944 nicht wieder zurück. Ob er abgeschossen wurde, ist bis heute unklar. Auch ein Selbstmord ist nicht ausgeschlossen. Denn der Autor litt unter Depressionen, obwohl sein Buch ein heute nahezu mythisch verklärtes Plädoyer für Freundschaft, Verantwortung und Verbundenheit über den Tod hinaus ist. Man kann es lesen und auch den Film sehen, ohne etwas über die Entstehungsgeschichte zu wissen. Aber nach den eigenen Lebenserfahrungen wird man bei wiederholter Begegnung immer wieder von etwas anderem berührt werden.

Der kleine Prinz. USA, Frankreich, Italien 2015. Regie: Marc Osborne. Animationsfilm. 108 Minuten. Ohne Altersbeschränkung.