Die meisten Täter, die Menschen vor Züge stoßen, tun das im Wahn, sagt der Kriminologe Thomas Bliesener. Sie wählen ihre Opfer zufällig aus. Der Experte warnt vor Nachahmern.

Berlin - Was bringt einen erwachsenen Mann dazu, ein kleines Kind vor einen Zug zu stoßen? Wie kommt es, dass binnen kurzer Zeit mehrfach Täter Menschen ins Gleisbett schubsten? Sehen wir einen neuen, erschreckenden Verbrechenstrend?

 

Nach dem Mordanschlag von Frankfurt und drei ähnlichen Fällen in jüngerer Zeit wachsen Befürchtungen und das Bedürfnis nach Erklärungen für die Taten. Aber auch für Fachleute wie den Leiter des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen, Thomas Bliesener, bleiben Fälle wie diese in Teilen rätselhaft.

Kein neuer Trend

Eines zumindest ist klar: Dass Menschen vor einen Zug gestoßen werden, gehört zu den sehr seltenen Straftaten. Die Zahl sei insgesamt so klein, dass bei der derzeitigen Häufung von vier Taten binnen sieben Monaten von einem Zufall auszugehen sei, sagte Bliesener unserer Zeitung. Es gebe zwar keine zentrale Statistik, aber aus vergangenen Jahren mehrere Berichte, in denen Taten zusammengetragen würden, zum Beispiel aus Großbritannien, Japan und den USA, so Bliesener.

„Es handelt sich nicht um einen neuen Trend. Schon vor vielen Jahren gab es Fälle, in denen Menschen ins Gleisbett geschubst wurden.“ Für den Eindruck, wonach die Zahl der Taten zunimmt, hat der Experte eine Erklärung: „Wenn Taten nur sehr selten vorkommen, genügt eine kleine Zunahme um den Eindruck eines großen Anstiegs zu erwecken.“ Auch die breite Darstellung auch in klassischen sowie sozialen Medien schüre Aufmerksamkeit und Angst.

Warnung vor Nachahmern

Was der Fachmann nun allerdings fürchtet, sind Nachahmertaten. „Das Risiko ist bei neu oder gehäuft auftauchenden schweren Gewalttaten, über die breit berichtet wird, immer da“, so Bliesener. Menschen, in denen schon länger eine Gewaltneigung schlummere, fänden dann einen Tatmodus, den sie nachmachten – auch um eine Art Ruhm zu erlangen.

Aber welches Motiv haben die Täter überhaupt? „In den meisten Fällen sind die Täter psychisch krank“, so Bliesener, der Material zu Fällen der Vergangenheit einsehen konnte. „Nach dem, was wir wissen, haben die meisten schizophrene Wahrnehmungsstörungen. Sie geben an, dass sie Stimmen gehört hätten, die etwas befahlen, folgen Verschwörungstheorien.“

Im aktuellen Frankfurter Fall ist noch nichts zum Motiv des Täters bekannt. Der Tatverdächtige, ein 40 Jahre alter Mann, der aus Eritrea stammt und seit 2006 in der Schweiz lebt, befand sich nach Erkenntnissen der Kantonspolizei Zürich seit kurzem in psychiatrischer Behandlung. Er war zwar bisher nicht polizeilich in Erscheinung getreten, hatte aber vergangene Woche seine Nachbarin und seine Familie angegriffen und war dann geflüchtet. Seitdem war schweizweit nach ihm gefahndet worden.

Opfer und Augenzeugen brauchen Hilfe

Videos aus Bahnhöfen zeigen eine weitere Gemeinsamkeit der meisten Täter: Sie kennen ihre Opfer in der Regel nicht vorher, es kommt auch nicht zum Streit, in dessen Folge Gewalt eskaliert. „Sie verhalten sich eher unauffällig, man kann aus ihrem Verhalten vor der Tat nichts schließen“, so Bliesener. Ein Mann habe vor der Tat 45 Minuten still am Bahnhof gestanden. „Wir sehen auch keine gezielte Opferauswahl, man kann nicht sagen, dass es vermehrt Frauen trifft, auch kräftige Männer sind darunter.“ Werte man der Videomaterial aus, so entstehe der Eindruck, es komme ein plötzlicher Impuls, dem die Täter jeweils folgten.

Überlebende, der Lokführer und möglicherweise auch Augenzeugen seien mit Sicherheit von der Tat traumatisiert und brauchten Hilfe, um die Ereignisse zu verarbeiten, so Bliesener. Auch der Traumaexperte Georg Pieper, der bereits die Betroffenen der ICE-Katastrophe von Eschede vor 21 Jahren betreut hatte, regte deshalb an, dass die Bahn eine Hilfsgruppe für Augenzeugen ins Leben rufen solle.