Am Mittwoch feiern die Deutschen ihre Einheit. Könnten Nord- und Südkorea eines Tages nach deutschem Vorbild wiedervereinigt werden?

Soul - Kim Seung-chul wird wieder über Deutschland sprechen. „Liebe Zuhörer, heute ist der 22. Jahrestag der deutschen Wiedervereinigung.“ So oder so ähnlich wird er in seiner Nachrichtensendung am 3. Oktober anfangen zu erzählen, wie es dazu kam, dass aus einem sozialistischen und einem kapitalistischen System ein gemeinsamer Staat wurde. Er wird viel Gutes über die Deutschen sagen, über die vereinte Wirtschaftskraft und eine junge Generation, die sich gar nicht mehr daran erinnern kann, dass ihr Land einmal geteilt war. Kim Seung-chul war noch nie in Deutschland, aber trotzdem wünscht er sich, dass sich seine Landsleute an den Deutschen ein Vorbild nehmen.

 

Der Koreaner sitzt in einer Mietswohnung in Seoul, von der aus er seit fünf Jahren den Kurzwellensender Reformradio Nordkorea betreibt. Hinter der Glasscheibe des Tonstudios spricht einer seiner Mitstreiter gerade einen Text ein. Drei weitere Kollegen bereiten an ihren Schreibtischen Beiträge vor: Nachrichtensendungen, Reportagen, Bildungsprogramme. „Die Nordkoreaner brennen auf Informationen von außen“, sagt der Mittfünfziger. „Nordkorea versucht, sein Volk vom Rest der Welt zu isolieren, aber der Eiserne Vorhang ist nicht mehr so dicht wie früher.“

„Feindsender“ funken über die Grenze

Kims Radiostation ist einer von vier spendenfinanzierten Feindsendern, die Programme über die innerkoreanische Grenze funken, welche die Halbinsel seit 67 Jahren teilt. Zwar stellen nordkoreanische Radiofabriken ihre Geräte so ein, dass sie nur den staatlichen Propagandasender empfangen können, aber viele Nordkoreaner manipulieren ihre Empfänger oder benutzen eines der kleinen Transistorradios, welche südkoreanische Aktivisten seit Jahren mit Heißluftballons über dem Norden abwerfen. „Überläufer, denen in den letzten Jahren die Flucht in den Süden gelungen ist, erzählen, dass inzwischen fast jede zweite Familie heimlich südkoreanische Programme hört“, erzählt Kim. Dass immer mehr Nordkoreaner inzwischen durchschauen, wie ihr Regime sie im Interesse des eigenen Machterhalts um Fortschritt und Wohlstand betrügt, stimmt ihn optimistisch, dass eine Wiedervereinigung der beiden Koreas womöglich gar nicht in so unerreichbarer Ferne ist, wie es gemeinhin erscheint.

Mit seinem Wunsch nach einer Wiedervereinigung ist Kim Seung-chul kaum ein Durchschnittskoreaner. Zwar haben beide Koreas in ihrer Verfassung die Vereinigung der Halbinsel als Staatsziel festgeschrieben, aber keine Seite arbeitet derzeit aktiv darauf hin. Im Norden, wo die Diktatur des Kim-Clans Anfang des Jahres in die dritte Generation gegangen ist, fürchten die Eliten, dass eine Öffnungspolitik ihr auf Propaganda und Staatsterror errichtetes System zum Einstürzen bringen könnte. Im Süden hat man dagegen Angst, dass eine Fusion mit dem verarmten Nachbar den eigenen Wohlstand vernichten würde. „Derzeit sind die Menschen auf keiner Seite auf eine Wiedervereinigung psychologisch vorbereitet“, sagt Kim Tae-woo, der Präsident von Südkoreas staatlichem Institut für Wiedervereinigung. Dennoch ist man sich zumindest in Seoul bewusst, dass sich die Frage schneller stellen könnte, als beiden Seiten lieb ist. Als im Dezember Diktator Kim Jong-il starb, fürchteten Beobachter um Nordkoreas Stabilität, und obwohl sein Sohn und Nachfolger Kim Jong-un seither seine Macht konsolidiert zu haben scheint, gilt das System weiter als höchst marode. Eine Wiedervereinigung könnte die Koreaner also genauso überraschen wie seinerzeit die Deutschen. „In dem Fall können wir von den Deutschen sicherlich viel lernen“, sagt Kim Tae-woo.

Man will wissen, was passieren muss, wenn es so weit ist

Von Forschern der Freien Universität Berlin haben sich die Koreaner deshalb 44 Bände mit Materialien zusammenstellen lassen, die im Ernstfall nützlich sein könnten. Darin geht es um praktische Fragen wie die Währung, die Angleichung der unterschiedlichen Sozialsysteme oder die Zusammenführung von Verkehrssystemen. „Die Frage, wie es zu einer Vereinigung kommen könnte, ist nicht unser Thema“, sagt die Berliner Koreanistik-Professorin Eun-Jeung Lee. „Aber was passieren muss, wenn es so weit ist – dazu sind die deutschen Erfahrungen sehr relevant.“

In Kim Tae-woos Büro im Institut für Wiedervereinigung am Stadtrand von Seoul ist die Trennung bereits überwunden. Hinter seinem Schreibtisch hängt eine große Karte der ungeteilten Halbinsel. Eine gerade Straßenverbindung führt von der einen Hauptstadt in die andere, so als könnte man sich in Seoul ins Auto setzen und vier Stunden später in Pjöngjang wieder aussteigen. Tatsächlich gibt es zwischen den beiden Staaten allerdings weitaus weniger Verkehr als seinerzeit zwischen den beiden Deutschlands. Wenn die politische Großwetterlage es zulässt, treffen sich getrennte Familien alle paar Jahre an einem Grenzort. Darüber hinaus können sie nur über Mittelsmänner in China heimlich Kontakt haben.

Die Versöhnungspolitik ist momentan ausgesetzt

Die einzige echte Verbindung zwischen beiden Staaten ist die gemeinsame Industriezone Kaesong, in der nordkoreanische Arbeiter für südkoreanische Firmen arbeiten, ein Resultat der Sonnenscheinpolitik, mit der Südkoreas Präsident Kim Dae-jung und sein Nachfolger Roo Moo-hyun zwischen 1998 und 2008 eine Annäherung versuchten. Der gegenwärtige konservative Präsident Lee Myung-bak hat die Versöhnungsversuche allerdings ausgesetzt, in der Hoffnung, den Norden damit zur Aufgabe seines Atomwaffenprogramms zwingen zu können. Gelungen ist es ihm nicht.

„Je nach politischem Lager gibt es unterschiedliche Ansichten, welche Lektionen wir Koreaner aus der deutschen Wiedervereinigung ziehen können“, sagt Kim Tae-woo. Die Konservativen, zu denen er selbst sich zählt, interpretieren die Ereignisse von 1989 als Sieg des wirtschaftlich starken und militärisch von den USA unterstützten Westens über den Osten. „Helmut Kohl hatte den Grundsatz, dass Westdeutschland nichts tun sollte, was die DDR-Regierung stützen würde“, sagt Kim. „Aussöhnung zwischen den Menschen wurde gefördert, aber nicht Aussöhnung zwischen den Regierungen.“ Dies sei genau das Gegenteil der koreanischen Sonnenscheinpolitik, bei der zunächst die Annäherung auf politischer Ebene im Vordergrund stand. Eine wichtige Voraussetzung für die Wiedervereinigung sei jedoch gewesen, dass es auf beiden Seiten in der Bevölkerung eine große Bereitschaft für ein Zusammenleben gegeben habe. „Damit eine Wiedervereinigung funktioniert, müssen beide Völker zunächst einmal den Wunsch dazu haben“, glaubt Kim. Die Unterwanderung des Regimes, etwa durch Feindsender wie Reformradio Nordkorea, sei hilfreich, um den Menschen im Norden eine andere Sicht auf die Welt zu ermöglichen, als die Propaganda sie ihnen vorgaukelt.

Wandel durch Annäherung

Das liberale Lager, entstanden aus Bürgerrechtsbewegung und dem Protest gegen Südkoreas Militärherrschaft, sieht dies anders. Angesichts der politischen Situation sei es völlig unrealistisch, eine Annäherung zwischen den Völkern zu erwarten, wenn sich nicht zunächst die Regierungen aufeinander zubewegen, meint der südkoreanische Aktivist Kim Sang-hun, der sich eine Rückkehr zur Sonnenscheinpolitik wünscht. „Solange wir mit den nordkoreanischen Eliten im Gespräch sind, haben wir die Möglichkeit, in ihrer Denkweise etwas zu verändern, andernfalls schotten sie sich ab“, sagt er. „Wandel durch Annäherung kann auch in Korea funktionieren.“