Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach präsentiert erstmals komplett einen seiner größten Schätze. 161 Seiten aus zehn Schreibheften, auf denen Franz Kafka vor beinahe hundert Jahren per Hand ein Schlüsselwerk der Moderne verfasst hat.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Josef K. erfährt am Morgen seines dreißigsten Geburtstags, verhaftet zu sein, so erzählt es Kafka in seinem Roman. Doch wie lautet die Anklage? Und wer sitzt überhaupt wo über ihn zu Gericht? Nirgendwo erhält K. darüber verlässliche Auskunft. Alle Welt betrachtet ihn voller Argwohn, doch niemand kann oder will ihm Klarheit verschaffen. Nach anfänglicher Empörung und Auflehnung wird K. durch die Vergeblichkeit allen Widerstandes zermürbt. Er fügt sich in ein Urteil, dessen Begründung er nie erfährt, und wird am Vorabend seines 31. Geburtstages in einem Steinbruch von zwei unbekannten Männern exekutiert, „wie ein Hund“.

 

Kafkas Werk gilt als Jahrhundertroman. Das Motiv der Auslieferung des Individuums an anonyme Mächte nimmt geradezu seherisch unzählige Bilder und Schicksale vorweg, welche die kommenden Leidens- und Schreckensgeschichte der Kriege und Diktaturen prägen. Kafkas schnörkellose Erzählweise verstärkt das traumatische Gefühl bei der Lektüre. Unzählige Autoren, aber auch Künstler anderer Gattungen haben Kafkas Bilder aufgegriffen, zitiert, verarbeitet und so zur Weltliteratur gemacht.

Eine Odyssee von Prag über Tel Aviv nach Marbach: die Geschichte des Manuskriptes ist selbst wie ein Roman

Franz Kafka vermachte alle Briefe und Manuskripte, darunter auch den unvollendeten „Process“, seinem Freund Max Brod. Dieser konnte in der Nacht vom 14. auf den 15. März 1939, nur wenige Stunden vor dem Einmarsch der Deutschen, aus Prag nach Palästina fliehen, die Kafka-Schriften im Handgepäck. Nach dem Krieg schenkte Brod das „Process“-Manuskript seiner Lebensgefährtin und Sekretärin Ester Hoffe. Diese verwahrte es seit der Suezkrise 1956 in einem Schweizer Banksafe und bot es 1988 bei Sotheby’s in London zum Verkauf. Dank einer landesweiten Spendenaktion konnte es am 17. November 1988 für rund 3,6 Millionen Mark für das Deutsche Literaturarchiv in Marbach ersteigert werden. Gemeinsam mit anderen Teilen des Kafka-Erbes steht es hier uneingeschränkt der internationalen Forschung zur Verfügung.

Kafka auf allen Kanälen und Etagen: Autoren und Wissenschaftler zeigen die Aktualität des Werks

Die Ausstellung „Der ganze Prozess“ ist von Freitag an bis zum 9. Februar in Marbach zu sehen. Im Begleitbuch kommentieren Autoren und Künstler wie Péter Esterházy, Anselm Kiefer, Sibylle Lewitscharoff oder Friederike Groß einzelne Blätter. Louis Begley wird zur Eröffnung heute um 19 Uhr aus New York anreisen. Ein internationales Symposium beschäftigt sich noch bis zum Samstag mit dem „Weltautor Kafka“. Bei einem Tag der offenen Tür am Sonntag von 10 bis 18 Uhr können sich alle Besucher auf Spurensuche begeben; das Motto: „Kafka finden“. Ein zweiter Schwerpunkt aller Kafkaeskereien ist das Stuttgarter Literaturhaus: Hier wird am Freitag um 21 Uhr die Ausstellung „Kafka Komiks“ eröffnet.

Der Autor: ein Angestellter der Brand- und Unfallversicherung in Prag

Franz Kafka Foto: AP
Franz Kafka (1883–1924) lebte in Prag, das zu dieser Zeit noch sowohl deutsch als auch tschechisch geprägt war, und arbeitete als Sachbearbeiter in Versicherungen. Seine Romane und Erzählungen entstanden nebenher. Doch zu Lebzeiten wurde kaum etwas davon veröffentlicht oder fand gar nennenswerte Beachtung. Seit 1919 litt Kafka an Tuberkulose. Sein Grab liegt auf dem  Neuen Jüdischen Friedhof in Prag.

So beginnt eine der berühmtesten Geschichten der Literatur

Im August 1914 beginnt Franz Kafka die Arbeit am „Process“. Nicht nur der Eingangssatz ist weltberühmt: „Jemand mußte Josef K. verläumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. Die Köchin der Frau Grubach, seiner Zimmervermieterin, die ihm jeden Tag gegen acht Uhr früh das Frühstück brachte, kam diesmal nicht. Das war noch niemals geschehn. K. wartete noch ein Weilchen, sah von seinem Kopfkissen aus die alte Frau die ihm gegenüber wohnte und die ihn mit einer an ihr ganz ungewöhnlichen Neugierde beobachtete, dann aber, gleichzeitig befremdet und hungrig, läutete er. Sofort klopfte es und ein Mann, den er in dieser Wohnung noch niemals gesehen hatte trat ein. Er war schlank und doch fest gebaut, er trug ein anliegendes schwarzes Kleid, das ähnlich den Reiseanzügen mit verschiedenen Falten, Taschen, Schnallen, Knöpfen und einem Gürtel versehen war und infolgedessen, ohne daß man sich darüber klar wurde, wozu es dienen sollte, besonders praktisch erschien. Wer sind Sie? fragte K. und saß gleich halb aufrecht im Bett. Der Mann aber ging über die Frage hinweg, als müsse man seine Erscheinung hinnehmen und sagte bloß seinerseits: „Sie haben geläutet?“ „Anna soll mir das Frühstück bringen“ sagte K. und versuchte zunächst stillschweigend durch Aufmerksamkeit und Überlegung“.

Damit endet die erste Manuskriptseite. Der angefangene Satz endet auf der Folgenden: „festzustellen, wer der Mann eigentlich war.“ Vom Sommer 1914 bis zum Januar 1915 hat Kafka an seinem Roman geschrieben. Er blieb unvollendet. Die Geschichte von Josef K. ist bis zum Ende erzählt; erhalten sind aber auch eine Reihe nicht in die Handlung eingefügter Fragmente. Die „2“ auf der Seite rechts oben stammt nach neuestem Forschungsstand vom Kafka-Erben Max Brod, Kafka selbst hat andere Seiten durchnummeriert; eine Seite mit einer „1“ ist allerdings nicht erhalten. Die Ziffernfolge „88.160.1“ unten links auf der Seite ist die Inventarnummer des Literaturarchivs.