In Mannheim beginnt das weltweit größte Breiten- und Wettkampfsportereignis: das Deutsche Turnfest. Vom Teenager bis zum Senior sind alle Generationen vertreten. Was macht die Faszination einer scheinbar überholten Tradition aus?

Sport: Gerhard Pfisterer (ggp)

Stuttgart - Die Fotos in Hubert Rothers dickem Erinnerungsband sind bestens erhalten, fein sortiert und kaum vergilbt. Lediglich die Motive verraten, dass es sich um ältere Bilder handelt – Trainingsanzüge sahen früher eben anders aus als heute. Die Fotos stammen allesamt vom Deutschen Turnfest: Der drahtige 79-Jährige vom SV Fellbach besucht seit Jahrzehnten die weltweit größte Breitensport- und Wettkampfveranstaltung.

 

Diesmal muss er nicht weit reisen: Die Metropolregion Rhein-Neckar richtet die Großveranstaltung eine Woche lang aus. Wie kaum ein anderes Ereignis zieht sie alle Generationen an, vom Teenager bis zum Urgroßvater. „Von der Kameradschaft her ist das Turnfest einmalig“, sagt Hubert Rother. „Du triffst Leute von überall, tauschst Gedanken aus und singst alte Turnerlieder – und Randale wie beim Fußball, das gibt es bei uns nicht, alle sind friedlich.“

An der Haltestelle wird auch schon mal Gymnastik gemacht

Bis zu 75 000 Teilnehmer werden bei dem Turnertreffen erwartet, das erstmals von einem regionalen Zusammenschluss ausgerichtet wird. Die fast 700 Wettkämpfe finden in 22 Kommunen statt; Mannheim, Ludwigshafen und Heidelberg sind die Zentren. 2009 war Frankfurt/Main der Gastgeber, 2017 folgt Berlin.

Rainer Brechtken war 1994 erstmals dabei, in Hamburg. „Eine Turnfeststadt prägt eine ganz besondere Stimmung, die ansteckend ist“, sagt der Präsident des Deutschen Turner-Bundes (DTB). Wenn die Bahn voll ist, bricht an der Haltestelle keine Hektik aus, sondern die wartenden Leute fangen einfach an, ein Lied zu singen oder eine Gymnastikdarbietung hinzulegen. „Dieses Gemeinschaftsgefühl und diese Friedlichkeit sind schon faszinierend – selbst für die Polizisten vor Ort“, sagt Rainer Brechtken.

Der Mitmachcharakter steht im Mittelpunkt

„Leben in Bewegung“ lautet dieses Jahr das Motto. Der Mitmachcharakter steht im Mittelpunkt. Die Turner drücken das gerne so aus: Während beim Fußball 22 Menschen aktiv sind und 75 000 zuschauen, machen beim Turnfest 75 000 Leute Sport – und 22 schauen zu. Turnen ist eben mehr als Gerätturnen: Der DTB vereint 26 Sportarten unter seinem Dach. Das geht von Aerobic über Faustball, Korbball, Mehrkämpfe, Orientierungslauf, Rhythmische Sportgymnastik (RSG) oder Ringtennis bis zu Trampolinturnen.

Hubert Rother hat sich für den Wahlwettkampf aus vier sportartübergreifenden Disziplinen entschieden. Er wird am Barren, Reck und Sprung turnen sowie einen 50-Meter-Lauf absolvieren. „Schauen Sie sich die Grätsche an – einwandfrei“, sagt der Fellbacher und deutet auf ein Foto in seinem Album, das ihn am Barren zeigt. Mit der Gustav-Auer-Riege, der „ältesten Turnriege der Welt“, wird er zudem am Freitag im Ludwigshafener Pfalzbau einen Showauftritt absolvieren.

Die Teilnehmer reichen vom Baby bis zum 90-Jährigen

Die Nacht dazwischen verbringt Hubert Rother im Ludwigshafener Berufsschulzentrum. Dort sind alle Starter aus seinem Verein untergebracht – Teenager, Erwachsene, Senioren. Nur zwischen Luftmatratze und Liege hat sich der 79-Jährige noch nicht entschieden für die Übernachtung im generationenübergreifenden Klassenzimmer, wo alle gleich sind. Die ältesten Teilnehmer sind Anfang 90, die jüngsten Wettkämpfer 13 – selbst Babys stehen auf der Anmeldeliste.

Wolfgang Fleiner war 1978 erstmals dabei, in Hannover. „Das war mein Erweckungserlebnis“, sagt der 58-jährige Geschäftsführer des Schwäbischen Turnerbundes (STB) aus Erbach bei Ulm. „Das ist ein gigantisches Gemeinschaftserlebnis. Als junger Kerl war es damals ja nicht selbstverständlich, dass man ohne Eltern aus seinem Kaff rausgekommen ist.“ Ein Turnfest ist auch eine Kontaktbörse – in doppelter Hinsicht: Einst hat er seine Frau bei einem Landesturnfest kennengelernt, jetzt wird er für die RSG-Weltmeisterschaften 2015 in Stuttgart werben. Der Deutsche Turner-Bund verzeichnet seit Jahren konstant an die fünf Millionen Mitglieder. Nur der Deutsche Fußball-Bund (6,8 Millionen) hat einen größeren Anteil unter den knapp 27,8 Millionen Sportvereinsmitgliedern in Deutschland. In der öffentlichen Wahrnehmung ist die Distanz zwischen den beiden Sportarten indes riesig. Allerdings haben der ehemalige Reck-Weltmeister Fabian Hambüchen und der Stuttgarter Olympiazweite Marcel Nguyen mit ihren Erfolgen in den vergangenen Jahren Werbung für das Turnen gemacht. Die Deutschen Meisterschaften mit den zwei Weltklasseturnern am Sonntag (12 Uhr) in der Mannheimer Maimarkthalle sind der sportliche Höhepunkt des Turnfests. Die beiden stechen aus der anonymen Turnermasse heraus, sie haben die Sportart zumindest ein wenig aus dem medialen Schattendasein gehoben.

Das Fundament bilden nach wie vor Männer wie Hubert Rother, der auf ein gutes Frühstück am Freitagmorgen hofft: „Das hängt aber immer vom Hausmeister und der Schule ab.“