Wie riecht eine Stadt? Der Parfumeur Lutz Lehmann hat in Deutschlands kleinster Duftfabrik das „Eau de Berlin“ kreiert. Die Professorin Sissel Tolaas hingegen schnüffelte ausgiebig die Bezirke ab – zwischen Imbissbuden und chemischen Reinigungen.

Berlin - Niemals hätten Harry Lehmann oder seine Nachfahren von sich aus über Marlene Dietrichs Vorliebe für die Nummer 37 gesprochen. So etwas tut man nicht. Nicht in diesem Metier. Der Duft der Frauen soll immer ein bisschen ein Geheimnis bleiben. Jener der Dietrich jedenfalls changierte zwischen seifig-zuckrig und drückend-abgründig, mit einem leicht bitteren Gefühl hinten im Gaumen. Das kann man riechen, heute noch, auch wenn man nie neben ihr stand.

 

Denn die Schauspielerin hat ihr Geheimnis quasi selbst gelüftet. Sie ist eben mal gesehen worden, wie sie in den berühmten Laden hineinspazierte, damals noch in der Friedrichstraße, Ecke Behrenstraße, erste Lage. Es ist eine schöne Vorstellung, dass die bebenden Flügel der Divennase auch mal hier über dem dicken Glasstopfen von Flakon Nummer 37 schwebten – und vielleicht im Duftgedächtnis der Dietrich dasselbe Assoziationsgewitter ablief: tiefes Lila, Bonbons, Frühling, im Wind wehender Chiffonschal. „Reines Veilchen“. So nannte Lehmann jene Mischung, welche die Schauspielerin liebte und hier immer erwarb.

Dickwandige Parfumflakons und feinspitzige Trichter

„Harry Lehmann, Parfum nach Gewicht, künstl. Blumen“ stand damals auf dem Ladenschild von Deutschlands kleinster Duftfabrik, genau wie heute, 70 Jahre später. Die Lehmanns sind, zwei Umzüge und einen Mauerbau später, längst im Westen der Stadt angekommen, wo es auch schon mal glamouröser zuging, und jetzt breitschlappige Limousinen russischer Geschäftsleute in zweiter Reihe parken. Der Laden ist seit 1958 unverändert, mit den dickwandigen Parfumflakons, den Ballonen für Eau de Toilette, den feinspitzigen Trichtern, dem seidenen Efeu bis unter die Decke. Hier landet man schnell, wenn man sich die Frage stellt, was das eigentlich sein könnte, die „Berliner Luft“, über die Paul Linke 1899 seinen Schlager schrieb – der Duft dieser Stadt, den solch ein Mythos umweht, dass Japaner ihn in eleganten Flaschen mit nach Hause nehmen. Aber davon später mehr.

Lutz Lehmann, Enkel des Firmengründers zieht bei dieser Frage mit höflich unterdrückter Ungeduld die Augenbrauen nur ganz wenig nach oben. Den sogenannten Duft der Stadt hat er heute Morgen schon im Übermaß ertragen, das Auto ist in der Werkstatt, also musste Lehmann, die „Nase“ des Unternehmens, U-Bahn fahren. „Das mache ich nicht so gerne, zu viel menschliche Gerüche.“ Auf dem Trottoir ein bisschen nasser Hund samt Hinterlassenschaften, dazu eine Prise Verwesung von feuchten Laubresten – und diese Imbissschwaden: Falafel, Zwiebel, Frittierfett. Herr Lehmann sagt das nicht so direkt, er redet nicht gern über andere und schon gar nicht schlecht.

Den eigenen Flakon mitbringen

Und überhaupt, im Geschäft der Familie ging es am Anfang erst mal gar nicht um die Berliner Luft, sondern eher um das Gegenteil: Harry Lehmann, erfolgreicher Unternehmer, Reisender, Privatier wollte den Duft der Welt in die Stadt tragen – auch für Berlinerinnen mit kleinerem Portemonnaie. 62 Jahre alt war der Firmengründer, als er – reich geworden mit Schrauben-, Fisch- und Fahrradhandel – im südfranzösischen Grasse das Parfumeurhandwerk lernte. Seine Geschäftsidee: wer bei Lehmann hochwertige Düfte kauft, zahlt keine teuren Flakons, sondern bringt den eigenen von der Frisierkommode mit und spart so Geld. Seither sind aus zehn Düften 50 geworden. Die Kundinnen und Kunden wählen direkt aus dem Angebot – oder lassen sich von Lutz Lehmann zu einer Mischung beraten. Die Kunden kommen von überallher – „vom Müllkutscher bis zum Universitätsprofessor und natürlich aus Babelsberg“, sagt Lehmann.

Der langweilige Geruch nach Gurke und Melone

Drunten im Keller – Zutritt verboten! – werden alle Rezepturgeheimnisse zwischen den großen Ballons mit den Grundstoffen gehütet. Hier sinnt Lutz Lehmann über neue Düfte, wie vor ihm sein Großvater und seine Mutter. Der Duftgeschmack der Menschen ändert sich – Lehmann bemüht sich um eine gewisse Form der Zeitlosigkeit. „Nach Gurke und Melone“, sagt er, röchen zurzeit die meisten Massenparfums, „langweilig, nicht aufwendig gebaut“. Das ist nicht seine Sache. Ein halbes Jahr geht schon ins Land, bevor ein Lehmann’scher Duft fertig ist. Es wird gemischt, gewartet, probiert, gemischt, gewartet, probiert. Es ist die Beschreibung dieses Prozesses, die dann doch ein Lächeln auf das Gesicht des Parfumeurs hinstreicht, als er erklärt, wie sich die Moleküle zu einem wilden Tanz verbinden, dessen Schritte man allenfalls vorher erahnen, aber nie genau wissen kann.

So ist 1987 dann doch ein Duft entstanden, mit dem die Berliner Parfumeure den Duft ihrer Stadt in eine Flasche verpfropfen wollten: Zur 750-Jahr-Feier entstand „Eau de Berlin“, eine leichte, moosige, frische Angelegenheit und ein kühnes Unterfangen in einer Zeit, in der Massennasenhämmer wie Loulou, Poison und Davidoffs Cool Water epidemisch waren.

Das „Eau de Berlin“ ist nach wie vor im Programm. Was ist daran Berlin? „Es riecht nach den Bäumen in der Stadt, nach grün, nach Grunewald“, sagt Lutz Lehmann. Wohl eher eine Westberliner Antwort.

Sogar im Schlaf nimmt die Nase Gerüche auf

Da hat Sissel Tolaas ganz andere Erkenntnisse gewonnen. Die Norwegerin ist Chemikerin, Mathematikerin und die einzige Wissenschaftlerin auf der Welt, die Düfte sammelt, zerlegt und synthetisch wieder zusammenbaut. In ihrer Altbauwohnung in Schöneberg riecht es an diesem Nachmittag kühl,

Die Chemikerin Sissel Tolaas archiviert Gerüche. Foto: Visum
feucht, ein bisschen nach Unterholz. Kann es wirklich kühl riechen, oder ist es das blaue Licht einer Neonschrift im Flur, das diese Verbindung im Gehirn erzeugt? Was ist Geruch überhaupt, und wieso ist er so wichtig?

„Das Riechorgan ist unser ältester Sinn“, sagt Tolaas. „Wir brauchen es, um Futter, um den richtigen Partner zu finden und um Gefahr wahrzunehmen.“ Mehr als 300 Geruchsrezeptoren hat die Nase. „Wir können nicht nicht riechen“, sagt die Forscherin. „Das tun wir selbst im Schlaf.“

Tolaas sitzt in ihrem riesigen Arbeitszimmer und putzt sich die Nase wie ein Präzisionsinstrument, ausführlich, sie atmet scharf ein, als wolle sie etwas testen. Die Tür zu einem kleinen Raum steht offen, gibt den Blick auf Tausende Fläschchen in einem Stahlregal frei: das Geruchsarchiv. In den 90er Jahren hat Tolaas begonnen, Gerüche zu sammeln. Die US-Firma International Flavors&Fragrances – einer der drei großen Duft- und Aromariesen weltweit – hat ihr ein Labor eingerichtet. Die Wissenschaftlerin hat mehr als 6700 Gerüche archiviert und neu zusammengesetzt.

Tolaas baut die realen Düfte nach

Wie das geht? Sie zeigt auf ein kleines, staubsaugerhaftes Gerät, das an die Teletubbies erinnert. Das ist Tolaas Sammelgerät, damit nimmt sie Proben – und zerlegt den Duft zu Hause im Gaschromatografen in seine Bestandteile. Tolaas baut die realen Düfte so ähnlich wie möglich aus ihren chemischen Einzelbestandteilen nach.

Mit dem Wort Duft fängt die Wissenschaftlerin und Künstlerin wenig an. „Wir müssen unsere Vorurteile zu Gerüchen loswerden“, sagt Tolaas, sie sitzt aufrecht und gestikuliert mit ihren Händen. Schweiß ist schlecht, Zitronenduft bedeutet Sauberkeit – diese Diktatur der Duftdeutung regt die Expertin auf. „Geruch gehört zur eigenen Identität“, sagt sie – die Nase ist für sie das Organ, das das Einzigartige am anderen sofort identifizieren kann. Die desodorierte, antibakterielle Welt ist eine, die diese Einzigartigkeit auslöscht. So gesehen, ist Berlin noch ziemlich individuell.

Wie riecht eine Stadt? Diese Frage hat sich die Wissenschaftlerin tatsächlich gestellt. Seit Jahren kartografiert Sissel Tolaas Geruchslandschaften. 2006 war Berlin dran. „Es war schwierig, weil Berlin so komplex, so unterschiedlich ist“, sagt sie. Vier Bezirke hat sie monatelang abgeschnüffelt. Heraus kam eine wilde Mischung. In Reinickendorf, ganz nordwestlich, 70er-Jahre-Hochhaussiedlung, viel Armut und Arbeitslosigkeit, da fand sie eine durchdringende Mischung: den nach leicht verbrannter Haut, nach Bodylotion, nach Desinfektionsmittel. „Dort steht das größte Sonnenstudio, das ich je gesehen habe, Paare gehen zusammen dorthin, Freundschaften sind da entstanden. Dazu der Geruch vom Schmierfett alter Aufzüge in den Hochhäusern. In Nordneukölln – das war noch bevor der Bezirk schick wurde – sammelte sie eine Mischung aus Imbissduft, den Polyesterausdünstungen billiger Klamottenläden und sehr viel chemischer Reinigung.

Der Duft der globalisierten Welt

Das war ihr zunächst ein Rätsel. Lassen die Neuköllner so viel reinigen? „Es ist schlicht nicht schwer, eine Reinigung aufzumachen, das machen da einfach viele.“ Langweilig dagegen roch es im noblen Charlottenburg, nach Parfums, Seife, uncharakteristisch. Der Duft der globalisierten Welt – nach Coffee to go, nach Leder aus Schuhgeschäften, nach Titan und nach hochwertigem Offsetdruck dominierte dagegen rund um den Hackeschen Markt in der eleganten Mitte.

Würde Tolaas heute, sieben Jahr später, die Stadt noch einmal in ihre Moleküle auseinandernehmen – es käme was ganz anderes heraus. „Insofern ist die Sammlung auch ein Stück Geschichte“, sagt sie. Eine schöne Vorstellung, dass man seinen Kindern mal ein Fläschchen unter die Nase halten kann und sagen: So hat es in meiner Kindheit zu Hause gerochen.

Eine Mischung aus Ofenheizung, Kohl und Schienen der Bahn

Ein Beispiel aus der Welt der verschwundenen Berliner Gerüche hat Tolaas vor einiger Zeit konserviert – sie hat lange danach gesucht: dem Geruch des Ostens. Gefunden hat sie ihn an der Jannowitzbrücke, im U-Bahnhof, wo sie in Ritzen herumwischte. „Es ist eine Mischung aus Ofenheizung mit Kohl, den Schienen der Bahn und einer ganz bestimmten Seife, die ich auch anderswo im Osten fand.“

Es ist nicht das, was die Touristen suchen, wenn sie am Checkpoint Charlie zwischen Grenzregimegrusel und Currywurst ganz schnell das Topsouvenir erwerben: den Duft von Berlin. Den gibt es keine 200 Meter vom ehemaligen Mauerverlauf entfernt in einem kleinen, ganz in Weiß gehaltenen Ladengeschäft in Flaschen. „Frau Tonis Parfum“ heißt das Geschäft – und ist das für das neue Berlin, was Herr Lehmann vielleicht in der goldenen Vorkriegsstadt war. Im Eiltempo rennen da manche Touristen herein, der Motor des Reisebusses läuft schon – sie wollen „Linde Berlin“ kaufen, „Eau de Berlin“, „Berlin Summer“ oder eben Marlene Dietrichs Veilchenduft. Der heißt hier auch Nummer 37 – was kein Wunder ist, denn alle Düfte kommen von Harry Lehmanns kleiner Parfumfabrik. Und werden von Stefanie Hanssen, der Erfinderin von Frau Toni, für eine etwas andere Zielgruppe übersetzt. Riecht genau gleich, findet aber ganz andere Abnehmer.

Hanssen ist Fachfrau für Rebranding, sie haucht angejahrten Hotels neues Leben ein. Frau Toni erfand sie aus Eigenbedarf. „Ich suchte ein bestimmtes Parfum, das ich gerochen hatte und versuchte es zu beschreiben. In keiner Parfumerie konnte man mir helfen.“ Sie bekam nur Empfehlungen für die Hits der Saison. Hanssen erzählte ihre Geschichte und fand einen Haufen Frauen, die es satt hatten, so zu duften wie die Dame am Nebentisch – alle sehnten sich nach etwas Individuellem.

Der letzte Schrei aus dem hippen Berlin

So kann man nun bei Frau Toni sein ganz individuelles Parfum zusammenstellen, Freundinnen treffen sich zum Schnupperkurs – und Touristen stürmen den Laden: „Berlin in a bottle“, titelte das „Wall Street Journal“, die brasilianische „Vogue“ erkor das Geschäft zum „Must Go“ in Berlin, und in einigen New Yorker Concept Stores sind die Düfte, die vor bald 90 Jahren in Harry Lehmanns feiner Nase entstanden sind, der letzte Schrei aus dem hippen Berlin.

Der Berliner Duft, er riecht eben für jeden anders. Neulich, so erzählt Hanssen, kam eine Gruppe britischer Herren zu Frau Tonis. Ausgewiesene Marlene-Dietrich-Fans auf Devotionalientour. Den Besuch am Ehrengrab hatten sie schon hinter sich. Nun wollten sie nur das eine: reines Veilchen. Zuckrig, aber mit Abgrund.