Der sprechende Sprachatlas ist ein Online-Projekt, um in die Tiefen des Dialekts einzusteigen. Kulturwissenschaftler der Universität Tübingen haben Hörbeispiele aus ganz Baden-Württemberg gesammelt.

Tübingen - Wenig poetisch erscheint das Unterfränkische. In Wittighausen, einer Gemeinde im nordöstlichen Zipfel Baden-Württembergs, heißen Sommersprossen Muckenschiss. Man kann sich gut denken, wie es zu dieser Assoziation kam. Charmanter klingen da die Märzenkegel, wie die Pünktchen auf Bodensee-Alemannisch heißen. Oder die Laubflecken, eine Dialektvariante aus dem Hochalemannischen bei Lörrach.

 

Es macht Spaß, sich auf einer digitalen Karte von Baden-Württemberg akustisch voranzutasten und die Vielfalt der Dialekte auszuloten. Möglich macht das der sprechende Sprachatlas der Tübinger Kulturwissenschaftler, der nach drei Recherchejahren fertig und im Internet zugänglich ist. Das langsame Sterben des Dialekts hat die Wissenschaftler Hubert Klausmann und Rudolf Bühler vom Ludwig-Uhland-Institut angespornt, eine Bestandsaufnahme zu erstellen. Sie reisten mit einem Fragenkatalog an 57 Orte im Land und sammelten Tonbeispiele, sortiert nach Sachkapiteln wie Bekleidung, Landwirtschaft oder menschlicher Körper. So lässt sich anschaulich aufzeigen, wie sich in den verschiedenen Sprachräumen welcher Begriff verbreitet hat und wie sich die Aussprache regional unterscheidet.

Finanziert wurde der Atlas vom Wissenschaftsministerium, der Tübinger Universität und dem Förderverein Schwäbischer Dialekt. Insgesamt 13 Dialekte haben die Forscher aufgezeichnet, die Bandbreite reicht vom Rheinfränkischen bis zum Ostschwäbischen, vom Schwäbisch-Alemannischen bis zum Ostfränkischen. Eine willkürliche Grenzziehung, wie Hubert Klausmann erklärt. „Es gibt selbstverständlich auch Ortsdialekte“, aber die weitere Auffächerung sei nur schwer abbildbar.

Dialektgeografie: 103 Karten zum Anklicken und Hören

Entstanden ist ein ganz bemerkenswerter Atlas mit 103 Karten und einer Wortsammlung, die die Hörer in die Tiefen des Dialekts hineinführt. Per Mausklick auf die Aufnahmeorte können die mitgebrachten Mundartbrocken oder auch längeren Erzählungen angehört und miteinander verglichen werden. So lässt sich ablesen, wie beispielsweise die schwäbische Diphthongierung, ein Lautwandel, voranschreitet. Auf dem Gebiet des früheren Herzogtums Württemberg entwickelt sich das Wort Schnee, das bereits im Mittelhochdeutschen mit einem langen Vokal gesprochen wurde, zu Schnai – mit einem Doppellaut aus zwei verschiedenen Vokalen innerhalb einer einzigen Silbe.

Exklusiv für die Zeitung kann man schon einige Beispiele hören, wo man die Nachbarin um a Ai bittet und wo um a Oi.

„In Ballungszentren ging der Dialekt im Laufe der Jahrzehnte verloren“, diagnostiziert Klausmann. Im Raum Stuttgart löse sich die Vielfalt auf, das gelte auch für andere Großstädte wie Freiburg oder Karlsruhe. Eine Tendenz, die der Forscher in ganz Deutschland ausmacht. Es bildeten sich immer mehr Sprachräume mit einer großflächigen Variante. Oasen des Dialekts seien dagegen stark abgegrenzte Gebiete wie eine Weingegend, in der seit Jahrzehnten kaum Zu- oder Wegzug stattfinde, in der das Land nicht verkauft, sondern weitervererbt werde. „Auch in Oberschwaben oder auf der Ostalb gibt es sehr stabile Dialektgebiete mit konstanten Einwohnerzahlen“, sagt Klausmann. Dort sei es unter den Kindern auf den Gymnasien üblich, dass selbstbewusst Mundart gesprochen werde. Dialekt werde nicht als Makel begriffen.

Ein langer Prozess, geprägt von Konkurrenz, ist die Weiterentwicklung der Dialekte. Das Schwäbische behauptet sich dabei ganz gut, vor allem in der Bodenseeregion. Den Raum Ravensburg und Friedrichshafen beschreibt Klausmann als Übergangsgebiet. Das Alemanische werde zurückgedrängt, das viel prestigeträchtigere und positiv besetzte Schwäbisch lege zu. „In zwei Generationen ist der Bodensee wirklich das Schwäbische Meer.“