Der frühere SPD-Fraktionsvorsitzende in der Volkskammer, Richard Schröder, würdigt im Interview der Stuttgarter Zeitung das letzte Parlament der DDR und dessen Durchsetzungfähigkeit gegenüber westdeutschen Wünschen.

Berlin – - Vor 25 Jahren wurde die DDR-Volkskammer zum ersten Mal frei und demokratisch gewählt. Wider Erwarten siegte nicht die SPD, sondern eine Parteienallianz unter Führung von Lothar de Maizière (CDU). Der Sozialdemokrat Richard Schröder wurde Fraktionschef und war, wie er jetzt bekennt, über das Ergebnis der Parlamentswahl gar nicht traurig.
Der heutige Bundespräsident Joachim Gauck schildert, dass er Tränen in den Augen hatte, als er am 18. März 1990 seine Stimme abgab. Immerhin war es für die allermeisten DDR-Bürger die erste echte demokratische Wahl in ihrem Leben. War es für sie gleichermaßen emotional?
Bei mir war das nüchterner. Ich habe selbst kandidiert und war innerlich längst mit der Frage beschäftigt, wie es denn nach der Wahl weitergeht. Die neu gewählte Volkskammer war ja ein ganz besonderes Parlament, weil es fast vollständig aus Leuten bestand, die sich auf der politischen Bühne noch gar nicht kennen konnten.
Ein Haufen blutiger Anfänger also…
Ja, und das nicht nur in der Volkskammer, sondern nach den Wahlen am 6. Mai 1990 auch in den kommunalen Parlamenten. Der Elitenaustausch in der DDR nach der Revolution war, wie man schon an diesem Beispiel sieht, viel größer als in anderen Ostblockstaaten.
Für die Volkskammerwahl war ein sehr gutes Abschneiden der SPD erwartet worden. Tatsächlich siegte klar die Allianz für Deutschland, ein Bündnis rund um die alte Blockpartei CDU. Ein Schock für Sie?
Natürlich hatte es vorher Umfragen gegeben. Aber die waren per Telefon gemacht – und damals hatten ganz viele Menschen in der DDR gar kein Telefon. Ein Schock war das Ergebnis für mich nicht. Es gab auf Seiten der SPD so etwas wie Erleichterung, weil doch viele, die unseren Spitzenkandidaten Ibrahim Böhme persönlich kannten, sehr genau wussten, dass er für das Amt des Ministerpräsidenten ungeeignet war. Er hatte etwas Flatterhaftes. Nein, ein Schockerlebnis war dieser 18. März wohl eher für Lothar de Maizière. Der wirkte wie erschlagen von dem Wahlergebnis, weil er nämlich die Hoffnung gehabt hatte, der Kelch gehe an ihm vorüber.
War ein Wahlsieg der Ost-CDU mit einem Kanzler Kohl an der Seite, der im Gegensatz zum SPD-Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine voll auf die Einheit setzte, überhaupt zu verhindern?
Kohl war der Kanzler, der Amtsinhaber. Als er in Dresden auftrat, wurde ein Plakat hochgehalten, das mir als Ostdeutschem sehr peinlich war: „Helmut, nimm uns an der Hand. Führ uns in das Wirtschaftswunderland.“ Man kann das als Beleg für Unmündigkeit sehen. Man kann aber auch sagen: Wir Ostdeutschen kannten die Wege nicht. Da ist man froh, wenn man einen trifft, von dem man glaubt, dass er sie kennt.