Die volle Bedeutungswucht seiner eigenen Vorschläge mutet auch Schulz seinen Zuhörern nicht zu. Vielmehr verpackt er sie in vermeintlich attraktive Gegenforderungen: Höhere deutsche Zahlungen an den EU-Haushalt ja, aber nur wenn Polen oder Ungarn die verabredete Zahl von Flüchtlingen aufnehmen. Europäischer Finanzminister ja, aber nur wenn er die Banken an die Kandare nimmt und Investitionen anschiebt. Bei aller Rücksichtnahme auf die in langen Jahren erlernte EU-Skepsis: Es ist ein vorsichtiges, durchaus ehrenwertes Herantasten an eine inhaltliche europapolitische Debatte.

 

Die Union sollte auch in die Debatte einsteigen

Europa kann nämlich nur dann wirklich gelingen, wenn die Regierenden über solch große Fragen, ihre Ideen und Pläne reden, bevor sie nach Brüssel fliegen – statt das Publikum anschließend vor fast vollendete Tatsachen zu stellen. Es ist ganz zentral für die demokratische Legitimation der Europäischen Union, dass die nationalen Vertreter – oder in diesem Fall die Kanzlerkandidaten – den Mut aufbringen, vorab zu berichten, mit welchen Zielen sie in den kommenden vier Jahren auf EU-Ebene verhandeln wollen. Was die Zustimmung zum europäischen Projekt angeht, ist nichts schlimmer, als das Gefühl, nicht gefragt worden zu sein. Wenn Regierungen in aktuellen Krisensituationen entscheiden, kann es eine Rückkoppelung mit den Bürgern naturgemäß erst nachträglich geben – große Reformvorhaben aber müssen im öffentlichen Raum diskutiert werden.

Martin Schulz riskiert viel, indem er diesbezüglich jetzt den Anfang gemacht hat. Statt diese offene Flanke zu beschießen, sollten die Union und ihre Kanzlerin in den kommenden zwei Monaten ebenfalls in diese Debatte einsteigen. Ein Wahlkampf, in dem über konkrete europapolitische Weichenstellungen gestritten wird, wäre ein Wert an sich. Es ist noch nicht zu spät für eine Auseinandersetzung, die so geführt wird, dass sich die Bundesbürger in den nächsten Jahren von Brüsseler Gipfelbeschlüssen nicht übergangen fühlen.