Die Formel 1 kennt derzeit fast nur ein Thema: die Reifen. Während einige Rennställe mit der Situation unzufrieden sind, können andere ganz gut damit leben: zum Beispiel Lotus mit dem Finnen Kimi Räikkönen am Steuer.

Montreal - Natürlich geht es wieder um die Reifen. Um was sonst? Dieses Thema entwickelt sich für die Formel 1 immer mehr zu einem Albtraum. Und das aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln. Mercedes wird nach einer Anhörung durch die Fia wegen der halbgeheimen Reifentestfahrten von 1. bis zum 17. Mai in Barcelona vor das Internationale Sportgericht geladen, ein vom Weltverband unabhängiges Gremium. Das muss innerhalb der nächsten 45 Tage eine Verhandlung ansetzen und kann von der Geldbuße bis zur Disqualifikation jede Art von Strafe verhängen.

 

Reifen also. Die immer wiederkehrende Geschichte. Auch vor dem Großen Preis von Kanada in Montreal am Sonntag (20 Uhr/RTL) klagen die Piloten, weil sie weit unter ihrem Limit fahren müssen, um die Gummisohlen über die Distanz zu bringen. Nicht alle natürlich, sondern nur diejenigen, die sich um den Erfolg betrogen sehen. Der Lotus-Pilot Kimi Räikkönen, der dank sauberer Fahrweise mit den Pirelli-Walzen glänzend zurechtkommt, fragt provokativ: „Durften wir nicht immer nur so schnell fahren, wie es die Reifen zulassen? Pirelli kann es keinem recht machen. Einer fühlt sich immer benachteiligt.“Die Resultate bestimmen auch das Urteil der einzelnen Teams. Red Bull mag die Reifen nicht, weil sie angeblich das beste Auto im Feld bestrafen. Das liegt daran, dass der Teamchef Christian Horner und der Technikdirektor Adrian Newey die Qualitäten eines Rennautos auf die Aerodynamik reduzieren. „Sie vergessen, dass ein Auto auch noch Aufhängungen, einen Motor und ein Getriebe hat“, spotten sie bei Ferrari und Lotus, deren Boliden verträglicher mit den sensiblen Gummis umgehen.

Red Bull hätte gerne die 2012er Reifen zurück. Weil da die Konkurrenz nicht mitspielt, versucht man Pirelli ein Sicherheitsproblem anzudichten. Tatsächlich hat sich in fünf Fällen an den Hinterreifen die Lauffläche wegen Überhitzung abgelöst. Der Stahlmantel darunter, der eigentlich Kern des Problems ist, hat aber gewährleistet, dass die Luft im Reifen blieb. Die betroffenen Fahrer konnten ihre Autos sicher abstellen. „Was soll daran gefährlich sein?“, fragt der Force-India-Sportdirektor Otmar Szafnauer gereizt. Force India zählt zu den Teams, die wollen, dass alles so bleibt, wie es ist. „Es ist nicht lustig, wenn dem Hintermann Gummifetzen um die Ohren fliegen. Oder wie bei uns die Aufhängung gleich mit abbricht“, gibt der Mercedes-Aufpasser Niki Lauda zu bedenken. „Hamilton ist nur die Aufhängung gebrochen, weil er zu faul zum Laufen war und stattdessen das Auto mit den kaputten Reifen in die Boxen zurückgefahren hat“, giftet Szafnauer zurück.Die Reifenfrage hat die Formel 1-Teams entzweit. Mercedes hielt sich bisher recht geschickt im Windschatten von Red Bull, die sich durch ihr ständiges Geschrei bereits als schlechte Verlierer geoutet haben. Doch jetzt ist Mercedes selbst ins Kreuzfeuer der Kritik geraten, weil sie Pirelli für einen außerplanmäßigen Reifentest ein aktuelles Auto zur Verfügung gestellt haben. Die Konkurrenz wittert Wettbewerbsvorteil und protestierte (die StZ berichtete).

Red Bull rasselt mit dem Säbel und kündigt eine härtere Gangart gegen Mercedes an, sollte das Team auch in Montreal gewinnen. Nach Meinung der Titelverteidiger hat Mercedes aus den Probefahrten über 1000 Kilometern einen Vorteil gezogen, der dem Gewinn einer Sekunde entspricht. Dass man sich jetzt gegen die Silberpfeile stellt, ist taktisch nicht klug, denn Mercedes war bisher ein Verbündeter gegen Pirellis Reifenpolitik. Diese Allianz ist nun aufgebrochen.

Dem Fia-Präsident Jean Todt ist das Chaos in seinem Reich unangenehm. Er rühmte sich damit, im Gegensatz zu seinem Vorgänger Max Mosley ein Harmoniestifter zu sein. Und jetzt so etwas. Was da zur Zeit mit den Reifen passiert, grenzt an Anarchie. Es ist aber symptomatisch für einen Zirkus, der die Richtung verloren hat. Eigeninteressen trüben den Blick fürs Ganze. Früher hat Bernie Ecclestone seine Schäfchen zusammengetrommelt, doch der Brite hat zurzeit mit seiner Bestechungsaffäre ganz andere Sorgen.