Berlin - Spätestens seit der Gründung der AfD ist die „neue Rechte“ in Deutschland in aller Munde. Und Ex-US-Präsident Donald Trump hat ihre Existenz der ganzen Welt drastisch vor Augen geführt. Doch was passiert auf der anderen Seite? Hat sich dort eine neue Linke entwickelt? Ja, allerdings verdient diese den Namen nicht. Denn mit links hat das nur noch wenig zu tun.
Jüngstes Beispiel: Der ehemalige Bundestagspräsident, das linke Urgestein Wolfgang Thierse, bietet der SPD-Führung seinen Austritt aus der Partei an. Ende Februar hatte er in einem Gastbeitrag in der FAZ Identitätspolitik und gendergerechte Sprache kritisiert – und steht dafür nun selbst in der Kritik von Seiten derer, die meinen die Wahrheit für sich gepachtet zu haben.
Demontiert sich die Linke selbst?
Auch an Universitäten, dem einstigen Hort von Debatte und Meinungsvielfalt, werden Vorträge boykottiert, die nicht mehr in den Mainstream-Kram passen. In den Bücherregalen wird also bald nur noch eine einzige Theorie Platz finden. Quasi religiöse Glaubensformeln ersetzen die Debatte. Wo einst wortreich und mit Herzblut Multi-Kulti gepredigt wurde, gilt heute: Wer etwas Anderes vertritt als selbst ernannte oder so beschimpfte Gutmenschen, ist per definitionem ein Schlechtmensch. In solchen stumpfen, eintönigen Kategorien hätte die einstige Linke, die echte Linke, so sie nicht in einer stalinistisch-dogmatischen Kruste erstarrt war, nie gedacht. Aufklärung, selbstständiges Denken, erweiterte Horizonte – alles anscheinend Schnee von gestern.
Links und rechts sind keine politischen Kategorien mehr, heißt es. Vielleicht weil die Linke sich selbst demontiert? Der mündige Bürger wird heute vom noch mündigeren schräg beäugt: Was isst du? Was trägst du? Wie lebst du? Die neuen Spießer leben nicht mehr rechts sondern links – wer hätte das gedacht? Das alte Prinzip des hektischen Mithaltens mit dem Lebensstandard der Nachbarn findet nicht mehr auf materieller, sondern auf ideeller Ebene statt. Statt des großen Autos steht nun das Elektro-Lastenrad demonstrativ vor der Garage.
Man beugt sich dem Konformitätsdruck aus Angst vor dem nächsten Shitstorm
Doch noch immer geht es nur um Eines: Um einen angeblichen gesellschaftlichen Standard. Das Skurrile: Manch einer will auf der linken Seite so korrekt sein, dass er oder sie mit seiner oder ihrer Vehemenz ins Faschistoide abdrifttet. Damit wird die gesellschaftliche Debatte, der Diskurs, der links von der Mitte einst mit das wichtigste war, im Keim erstickt. Eine latente Stimmung von Bevormundung, gedanklicher Platzangst macht sich breit, wenn gefühlt jeder zweite Satz, der in der Öffentlichkeit getätigt wird, mit einer Rechtfertigung beginnt – schließlich will sich in diesem Klima niemand angreifbar machen. Man beugt sich dem Konformitätsdruck aus Angst davor, plötzlich selbst das Opfer des nächsten „Shitstorms“ zu werden.
Die so genannte Sensibilisierung der Sprache führt zu immer mehr Distanz zwischen den Menschen, dazu, dass das Misstrauen in der Gesellschaft wächst. Die Hüter des Guten lauern überall. Und selbst das vermeintlich „Gute“ kann doch irgendwo irgendwem auf den Schlips treten. Wer heute noch das wohl schon wieder veraltete Gender-Sternchen benutzt gilt bereits als Frauen- oder als Diversenfeind. Oder als Menschenfeind. Oder als Feind.
Wo ist der Regenbogen?
Seit wann ist die linke Gedankenwelt so kleinkariert nur in Kategorien wie gut und schlecht, weiß und schwarz eingeteilt? Wo ist das Graue geblieben? Das Bunte? Wo ist der Regenbogen? Die Linken vor 20/30 Jahren hätte wohl nie eine derart verbohrte Moral an den Tag gelegt, wie es ihre Nachfolger tun. Das Schlimme ist: Erst durch diese Art der Selbstzensur kann die neue Rechte immer mehr an Debatten-Boden gewinnen.
almut.siefert@stuttgarter-nachrichten.de