Die Geothermie-Katastrophe in Staufen Eine Stadt in Bewegung

Eine Geothermiebohrung unterm Rathaus ließ Staufen aus den Fugen geraten. Zehn Jahre später bewegt sich der historische Stadtkern noch immer. Wann der Aufruhr unter der Erde ein Ende findet, kann keiner sagen.
Staufen - Nichts wünscht sich Wolfgang Trch so sehr wie Stillstand. Ein Innehalten jener Kräfte, die sein Leben aus der Balance und sein Haus fast zum Einsturz gebracht hätten. Vor allem nachts kann er sie hören. „Dann sprechen sie zu mir“, sagt der ehemalige Gastwirt mit der Blumenkrawatte und dem rustikalen Lachen – dann knirscht es im 400 Jahre alten Eichengebälk, es reißt das Gemäuer, Steine werden zermahlen, Wände kippen.
Was unsichtbar im Untergrund rumort, wird bei den Trchs sichtbar. Risse, überall, hinter aufgehängten Backformen und Bildern an den Wänden, versteckt hinterm Sofa, zugefugt mit Silikon an den Türschwellen. Selbst die Bodenplatte aus Beton ist halbiert, das Haus zerrissen in zwei Hälften, die sich weiter verschieben. „Wir leben seit zehn Jahren mit der Gefahr“, sagt der 75-Jährige und traut sich nicht mal mehr, die Fenster zu öffnen, weil die Scheiben wieder bersten könnten. „Das ist wie auf der Spitze eines Vulkans zu wohnen.“
Entfesselt hat den Aufruhr im Innersten der Erde eine wohlgemeinte Tat. Die Gemeinderäte von Staufen im Breisgau, einer 7500-Einwohner-Stadt vor den Toren Freiburgs, wollten der Umwelt Gutes tun, als sie entschieden, ihr Rathaus mit Erdwärme zu heizen. Doch die Geothermie-Bohrungen im Sommer 2007 gingen gründlich daneben, sie stachen ein Gesteinsfeld an, das sie besser in Ruhe gelassen hätten. Wie ein Schwamm saugt die Anhydritschicht direkt unter der historischen Altstadt das Wasser aus der Tiefe auf, dabei entsteht Gips. Die Quellung hat noch kein Ende gefunden, Staufen bewegt sich weiter. Statt wie anfangs elf Millimeter im Monat sind es nur noch zwei, aber auch das summiert sich.
Im Rathaus hängt die Designlampe über dem großen Besprechungstisch schief, bemerkt hat es noch keiner. „Solche Kleinigkeiten fallen uns gar nicht mehr auf“, sagt Harald Zimmermann, der Stellvertreter des Bürgermeisters, „wir haben uns daran gewöhnt, dass es ständig irgendwo bröselt.“ Unter seinen Füßen ist das Fischgrätparkett aufgeplatzt, über den Bleiglasfenstern mit Blick auf den sonnengefluteten Marktplatz ziehen sich daumendicke Spalten. Niemand hätte sich etwas dabei gedacht, als sie einstimmig jenes Projekt anschoben, das für Staufen zum Super-GAU wurde und 270 Häuser beschädigte. Die geschätzten Kosten: 50 Millionen Euro oder mehr.
Staufen wächst ein hässlicher Buckel
Bei einer Überflutung seien die Folgen schnell zu sehen, die Hilfe folge prompt, sagt Harald Zimmermann, feiner Anzug, früher Chef eines Modehauses am Ort. Seit Jahrzehnten sitzt er für die Freien Wähler im Gemeinderat, er würde alles tun, um Staufen voranzubringen. „Bei uns ist das anders, unsere Katastrophe kam schleichend“, bis heute könne keiner der Experten sagen, wann die Blähungen in der Tiefe aufhören. Wann die Aussicht aus dem Rathausbüro sich nicht mehr kontinuierlich verändert, denn seit den Bohrungen wächst Staufen ein hässlicher Buckel, der in Fassaden Bäuche wachsen lässt und Gasleitungen fast zum Platzen bringt: eine Hebung, als ob im Untergrund etwas geschlüpft ist, das Platz braucht. 60 Zentimeter hat es den Stadtkern angehoben, 40 Zentimeter nordwärts verschoben. Ob es jemals aufhört, größer zu werden?
An der Stelle im Rathaus, wo der erste Haarriss auftrat, bleibt Zimmermann andächtig stehen. Eine graue Kunststoffwulst füllt die Öffnung, die aussieht wie ein Fluss mit Mäandern. Manche Verästelungen sind zugemörtelt und wieder aufgebrochen. An der Wand hat jemand mit Bleistift fein säuberlich Jahresdaten und Zentimeterangaben notiert, eine Chronik des Zerbrechens. „Wir haben gerade die Fassade des Rathauses aufwendig saniert“, erklärt Zimmermann beim Rundgang durch die Etagen, „manche Mitarbeiter saßen schon halb im Freien.“ So zugig war ihr Arbeitsplatz noch nie, so gut überwacht auch nicht.
Alle paar Wochen schauen die Statiker eines Karlsruher Büros vorbei und legen Lineale an, um den Schaden zu dokumentieren und vor allem um Schlimmeres zu verhindern. Ist die Standsicherheit gefährdet, müssen tragende Balken neu verankert werden, es braucht Stützelemente oder Notfallmaßnahmen wie etwa beim abgerissenen Treppenturm. Der wurde mit schweren Stahlnägeln wieder fixiert, „da passiert nichts“, versichert Zimmermann und geht entschiedenen Schrittes voran. Das Rathaus, einst ein liebevoll renoviertes Schmuckstück aus dem Jahr 1564, ist ein einziges Flickwerk geworden, mit Pressspanplatten an den Decken und Stolperfallen. Das lässt sich nicht verstecken, im Gegenteil, es sollen alle sehen. Riesige rote Pflaster kleben über den Rissen am Rathaus, und die Touristen zücken ihre Kameras. Der Aufdruck ist ein Appell: „Staufen darf nicht zerbrechen!“
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