Die Lehren des Ukraine-Kriegs Töten als Routine
Der Krieg in der Ukraine zeigt ein Ausmaß an Gewalt, wie man es in Europa nicht mehr für möglich hielt. Der Westen muss seinen Geschichtsoptimismus korrigieren. Und er lernt etwas über sich selbst.
Der Krieg in der Ukraine zeigt ein Ausmaß an Gewalt, wie man es in Europa nicht mehr für möglich hielt. Der Westen muss seinen Geschichtsoptimismus korrigieren. Und er lernt etwas über sich selbst.
Im Krieg treffen Technik und Körper aufeinander. Der Körper wird dabei entmenschlicht, wird zu einer konturlosen Substanz. Wie sich das vollzieht, zeigen die Bilder und Videos, die uns von den Schlachtfeldern der Ukraine in den sozialen Medien erreichen. Sie sind schwer auszuhalten: Leichenhügel im Licht einer mitleidlosen Sonne, mumienhaft vaporisierte Körper von Panzerfahrern, deren Fahrzeug von einer Rakete getroffen wurde, abgerissene Gliedmaßen, verkrampft am Boden liegende Leichen in Orten wie Butcha, den Schauplätzen von Massakern russischer Soldaten. Den Historiker erinnern diese Bilder an die Territorien der Massenvernichtung im Zweiten Weltkrieg im Osten Europas. Sie konkurrieren mit der Zurschaustellung einer Technik, die Vernichtung zur Wissenschaft erkoren hat.
Feuergeschwindigkeit, Trefferradius, Explosivkraft – das sind die Währungen, in denen abgerechnet wird. Bezahlt wird im Schützengraben, wo menschliches Leben in Sekunden ausgelöscht wird, und in den Wohnblocks, deren zertrümmerte Fassaden den Blick auf Wohnungen freigeben, die nur noch eine Ahnung friedlichen Lebens enthalten.
Diese Pornografie des Kriegs ruft in den friedfertigen, austarierten Gesellschaften des Westens Entsetzen hervor. Glaubte man doch, dass der Prozess der Zivilisation den kollektiven Ausbruch der Gewalt verhindert: Regeln statt Schläge. Rechtsnormen statt Willkür. Die Bundeswehr, eigentlich eine Maschinerie zur Anwendung organisierter Gewalt, wurde zu einer dysfunktionalen Behörde degradiert, die ängstlich danach trachtete, ihre Auslandseinsätze moralisch abzusichern – und sei es mit der Bewachung einer Mädchenschule in Afghanistan. Eine wachsende Sensibilität gegenüber Schwachen, Minderheiten und ihren Bedürfnissen schien uns immun zu machen gegen Krieg und organisierte Gewalt. Konservative Kommentatoren weisen dies jetzt selbstgewiss und nicht ohne Zynismus zurück. Sie sehen ihr tristes Menschenbild bestätigt und fordern eine Wende zum Heroismus, zur Mannhaftigkeit – was immer darunter zu verstehen sein mag.
Dabei stellt der Krieg in der Ukraine nur infrage, was der nüchterne Blick der Soziologen längst als Wunschdenken entlarvt hat. Heinrich Popitz definiert in seinem Buch „Phänomene der Macht“ die Gewalt als „Todesmacht von Menschen über Menschen“. Sie sei eine Option menschlichen Handelns und definiere das menschliche Zusammenleben. Popitz: „Der Mensch muss nie, kann aber immer gewaltsam handeln, er muss nie, kann aber immer töten.“
Diese Analyse wird von dem Historiker Jörg Baberowski präzisiert. Genau wie Opitz sieht er Gewalt als Folge einer Möglichkeit und einer Situation. Nichts erscheint diesem Kontext argloser als der viel zitierte Spruch: „Gewalt ist keine Lösung.“ Gewalt könne sehr wohl Lösungen erzeugen, so Baberowski. Sie schaffe neue Situationen, sie begünstige denjenigen, der schneller, skrupelloser, tötungsbereiter ist. Denjenigen, der die Hemmung, dem anderen die Faust ins Gesicht zu schlagen, ihm ein Messer in den schutzlosen, weichen Körper zu stechen, schneller loswerde. Wer den Raum der Gewalt betrete, werde zu einem anderen, so Baberowski. Niemand könne sich der Gewalt entziehen, sie sei dynamisch und verändere alle sozialen Beziehungen. Und nichts steigert das Selbstwertgefühl desjenigen, der die Waffen und den Willen hat, sie zu benutzen, so sehr wie die Angst seiner Opfer.
Der Neuropsychologe Thomas Elbert, emeritierter Professor an der Uni Konstanz, hat viel über die Tötungsbereitschaft des Menschen geforscht. Er kommt zu einem nüchternen Fazit, erliegt aber keinem wohlfeilen Zynismus: „Unser basales Gedankensystem, demzufolge die Menschheit stetig nach dem Guten strebt, ist falsch. Die Stabilität unserer Zivilisation ist brüchig. Umso mehr müssen wir sie verteidigen.“
Wer über Gewalt schreibt, muss über Tod, Schmerz und Blut schreiben, denn sie ist kein klinisches Phänomen. Der Soziologe Harald Welzer schildert in entsetzlichen Details die Tötungsarbeit des Polizeibataillons 45 während des Zweiten Weltkriegs in der Ukraine. Die Einheit bestand nicht aus fanatischen Nazis, sondern zum Teil aus biederen Männern in den 50ern. Dennoch machten sie bei dem zehntausendfachen Morden mit – nach anfänglichem Zögern. Welzer beschreibt eine arbeitsteilige Mordmaschine, ein Herantasten an das Endgültige mit dem Genickschuss als Vollzug.
Bestimmte Situationen machen Gewalt also möglich und plausibel. Welzer spricht von Referenzrahmen, in denen die bisher geltenden moralischen Grundsätze außer Kraft gesetzt werden. Diese Prinzipien kommen erst wieder ins Spiel, wenn es nach der Rückkehr aus dem Gewaltraum darum geht, sein blutiges Handwerk ethisch zu begründen. Wer getötet hat und töten ließ, ist in der normalen Welt ein Verbrecher. Der normative Rahmen des Erlaubten hat sich geändert. Jetzt sind wieder Gerichte zuständig. Die Faust muss in der Tasche bleiben, den Nachbarn zu erschießen, weil man seinen Mercedes haben möchte, ist unzulässig.
Das vorherige Treiben im Krieg muss aber begründet werden. Es sei nötig gewesen, um Schlimmeres zu verhindern, heißt es. Fast immer wird eine moralisch grundierte Logik ins Feld geführt. Doch auch dieses Schema wird in der Ukraine durchbrochen. Die Aufnäher an der Uniform eines getöteten Söldners der berüchtigten Wagner-Truppe lassen sich so übersetzen: „Ich glaube an nichts. Ich bin nur der Gewalt wegen hier.“
Doch die Brutalität und die Dynamik des Kriegs in der Ukraine sind mit sozialpsychologischen Mustern nicht allein zu erklären. Es hilft der Blick in die Geschichte: Der US-Historiker Timothy Snyder beschreibt die Ukraine und Teile Polens als Bloodlands, als Territorien extremer Gewalt – ausgeübt von den Regimen Stalins und Hitlers.
Nehmen wir das Jahr 1931, das Jahr des großen Hungers, des „Holodomor“: Stalins erster Fünfjahresplan treibt die Industrialisierung und Kollektivierung in der Ukraine (damals ein Teil der Sowjetunion) voran – zum Preis der totalen Verelendung des Landes. Bauern werden gezwungen, ihr Getreide, ihr Land, am Ende auch ihr Saatgut abzugeben. Fanatische junge Kommunisten ziehen durch die Dörfer und nehmen mit, was sie finden. Wer etwas versteckt, wird erschossen. 1932 erhöht Stalin mit einem Dekret die Abgabequoten – das endgültige Todesurteil für drei Millionen Menschen in der Ukraine. Sie sterben langsam und würdelos. Auf den Marktplätzen liegen Leichen, sterbende Eltern erlauben ihren Kindern, sie zu essen. Ganze Dörfer verwesen.
Solche Geschichte kann neuen Hass und neue Gewalt säen. Aber muss es so kommen? Was wäre, wenn in Moskau ein Herrscher säße, der das Wohlergehen der Menschen, ihre Versorgung mit Krankenhäusern, Straßen oder funktionierenden Toiletten höher einschätzte als die Errichtung eines Imperiums nach den Maßgaben des 19. Jahrhunderts? Wenn die Geheimdienste besser gearbeitet hätten und den russischen Machthaber vor dem vermeintlichen Spaziergang durch die Ukraine gewarnt hätten? Wenn die Gewalt nicht auf so fruchtbaren Boden gefallen wäre, wenn also das Morden und Zerstören erregende Fantasie geblieben wäre?
Dann aber wäre auch der berauschende Effekt der Gewalt ausgeblieben. Denn, so Baberowski, wer Gewalt ausübt, der kann nicht ignoriert werden. Er gewinnt Macht. Nichts anderes scheinen jene Reaktionen vieler Russen in den sozialen Netzwerken zu sagen, die den Krieg in der Ukraine gutheißen. Kaum erträglich sind ihre Kommentare auf Bildern von zerstörten Wohnblocks und verletzten Kindern. Vulgär zelebrierter Beifall ist da zu sehen, verbunden mit der Ermunterung an die eigenen Soldaten weiterzumachen, Hemmungen abzulegen.
Diese Reaktionen kommen von Männern wie von Frauen. Die Geschlechter sind in der Wahl der Waffen und Worte nicht zu unterscheiden. Was die russische Autorin Alissa Ganijewa in einem Essay für die „NZZ“ beschreibt, könnte man toxische Weiblichkeit nennen. Aus ihr spricht eine schwer zu verstehende Gefühllosigkeit. Die Autorin zitiert aus Videos, in denen russische Kämpfer ihre Mütter zu Hause anrufen. In den Gesprächen ernten die jungen Soldaten weder Entsetzen noch Mitgefühl. Die Mütter reagieren gleichgültig, kalt, manchmal wütend oder verärgert. Bestenfalls ermuntern sie ihre Söhne, eine Waschmaschine als Beutegut mitzubringen.
Haben Wladimir Putin und seine Helfer ihr ganzes Land in einen Gewaltraum verwandelt? Wer die Berichte aus den sozial und ökonomisch deklassierten Orten der russischen Provinz liest, wird in Szenarien versetzt, in denen Gewalt zum Alltag wird. Sie hat nichts Heroisches und Moralisches an sich. Sie entsteht, weil die anderen und der Staat sie zulassen oder zulassen müssen. Brutalisierte Macht wird auf einem Terrain der Verwahrlosung und Aussichtslosigkeit ausgeübt. Soziologen wie Norbert Elias und später auch Steven Pinker setzen deshalb auf den Prozess der Zivilisation und gegenseitigen Kommunikation. Es sei ökonomisch wichtig, die Bedürfnisse des anderen zu erkennen. Gewalt würde sinnlos. Führt also ein Weg vom Schwert hin zum Argument?
Nüchtern betrachtet ist das unwahrscheinlich. Und es hilft denjenigen nicht mehr, die zu Opfern wurden: den kriegsversehrten Schattenkriegern aus den Bunkern eines Stahlwerks, den Kriegswaisen und den vergewaltigten Frauen. Und am wenigsten den Toten. Sie sind gefangen in ewiger Dunkelheit, während ihre Altersgenossen, junge Menschen mit Träumen und Hoffnungen, wieder ins Leben zurückfinden, lachen, sich verlieben, Netflix-Serien schauen und ins Ausland reisen. Die Toten aber werden zur blassen Erinnerung. Bis sie verschwinden.