Krankheiten und Krisen können Gregor Gysi nicht stoppen. Er will mit seiner Linkspartei und den Sozialdemokraten an die Macht – eine historische Aufgabe.

Politik/Baden-Württemberg : Bärbel Krauß (luß)

Berlin - Nach einer Stunde erbarmt sich ein Ordner von der Linkspartei und schreibt das fehlende „r“ auf das selbst gemalte Plakat. Eine schwarze Frau mit weißem T-Shirt und dickem Talmiperlen-Bommel am rechten Ohr hält es hoch, seit Gregor Gysi auf das Podest am Hermannplatz in Berlin geklettert ist. Anfangs geduldig, dann immer energischer ruckeln die Arme der Frau in die Richtung, wo Gregor Gysi gerade die Welt erklärt und um Stimmen für seine Partei bei der Bundestagswahl wirbt. Immer wilder schüttelt die Frau ihre Arme, als wolle sie noch ein paar zusätzliche Millimeter Länge zwischen Elle und Oberarm und Schultergelenk herausstoßen. Der Perlenbommel tanzt dabei ekstatisch, und auf den Zügen der Frau wandelt die Geduld sich erst in Entschlossenheit und dann in Aggression.

 

Es wird nicht ganz klar, was sie mit ihrem energischen Einsatz eigentlich bezweckt, woraus ihr Frust sich speist. „Grego – go on!“ steht auf ihrem Schild. Als ob der Spitzenwahlkämpfer der Linkspartei diese Aufmunterung brauchte! Weder während der eineinhalb Stunden auf dem verkehrsumtosten Hermannplatz zwischen Neukölln und Kreuzberg noch in diesem Wahlkampf überhaupt steht auch nur eine Sekunde infrage, dass Gregor Gysi genau das zu tun beabsichtigt: weitermachen. Trotz mehrerer Herzinfarkte, einem Hörsturz, einer Hirnoperation und einer gescheiterten Ehe bleibt der 65-Jährige auf der politischen Bühne. Das Thema hat er abgehakt, irgendwann nach dem Parteitag in Göttingen vor 15 Monaten, als er die zerstrittene Partei mit einer Rede über den Hass in der Bundestagsfraktion, die westdeutsche Arroganz und die verkorkste Ehe zwischen Ost- und Westlinken aufrüttelte. Seither hat die neue Parteiführung die Linke befriedet, und Gysi hat sich von seinem ehemaligen Tandempartner Oskar Lafontaine emanzipiert – wie die Partei insgesamt.

Gysi ist ein Mann mit Ausstrahlung – das verschafft ihm viele Fans. Foto: dpa

An die Stelle der Lafontaine’schen Radikalopposition aus den vorherigen Wahlkämpfen ist ein neuer Kurs getreten. Gysi präsentiert die Linkspartei einerseits als einzig wahre Opposition gegen die in der „Konsenssoße“ schwimmenden Restparteien im Bundestag. Andererseits versucht er unermüdlich, den Sozialdemokraten eine rot-rot-grüne Koalition anzutragen.

Rastlos rast Gysi, der nicht „Spitzenkandidat“ heißt, sondern von einem strömungsmäßig sorgfältig austarierten Wahlkampfteam umgeben ist, von Stadt zu Stadt, von Kundgebung zu Podiumsdiskussion zu Interview. Alle acht Teammitglieder sind fleißig unterwegs. Aber unter seinen Mitstreitern ragt neben ihm allenfalls seine Fraktionsvizechefin und Hauptkonkurrentin Sahra Wagenknecht – die Lebensgefährtin Oskar Lafontaines – hervor. Fast 200 Termine wird Gysi bis zum 22. September absolvieren. Gut möglich, dass er und Sahra Wagenknecht sich bis dahin kein einziges Mal begegnen.

„Ich muss noch nach Gera“, sagt Gysi gegen Ende seiner Rede und steigert sein ohnehin schnelles Sprechtempo noch ein bisschen mehr, denn auch eineinhalb Stunden reichen ihm kaum, um darzulegen, dass die Linke keine „Revolution“ plane, sondern zehn Euro Mindestlohn, 1050 Euro Mindestrente, bezahlbaren Strom, bezahlbare Mieten und eine Millionärssteuer ganz einfach für zeitgemäß halte. „Stromsperren würde ich verbieten“, wettert er. „Dann hat der Konzern eben Pech. Da wohnen Kinder, ich bitte Sie!“

Die einfachen Leute hat er besonders im Visier. Foto: dpa-Zentralbild

„Ich bitte Sie“, sagt Gregor Gysi fast ebenso häufig, wie, dass er „es leid“ sei: die Zwei-Klassen-Medizin, die schlechte Bezahlung in Frauenberufen, dass die Mieten nach Sanierungen unbezahlbar werden, dass Hartz IV „durch und durch diskriminierend und demütigend organisiert“ ist. Anders als die anderen Parteien sei allein die Linke gegen Militäreinsätze, gegen Waffenexporte, gegen die Euro-Rettungsschirme und für die Rückkehr zur Rente mit 65. Finanzierungsfragen? „Ich bitte Sie“, sagt er. Die demografische Entwicklung sei nicht entscheidend – die wachsende Produktivität ermögliche es, „selbstverständlich“ zur bisherigen Rentenregelung zurückzukehren. 170 Milliarden Euro würde die Umsetzung des Wahlprogramms der Linken kosten, bei geplanten Mehreinnahmen von 180 Milliarden Euro, sagt er beiläufig – ganz so, als ob es sich dabei um lächerliche Beträge aus der staatlichen Portokasse handelte. Im Übrigen stünden der Bundesregierung nur zwei Wege offen, wenn die Risiken der Griechenland-Rettung tatsächlich eintreten: „Entweder sie müssen Hartz IV und die Rente völlig streichen, oder sie drucken Geld“, sagt Gysi. „Und wenn die Geld drucken, sind Ihre kleinen Sparguthaben nichts mehr wert.“ Angstmachen gehört für den Spitzenlinken eben auch zum Repertoire.

„Gregor, rette Deutschland!“, steht auf einem anderen Plakat, das der Wahlkämpfer nur zu gerne vorliest. „Mensch“, sagt er kichernd, „das schaff ich doch auch nicht alleine!“ Er betont, wie wichtig und langwierig es sei, den Zeitgeist zu ändern, und dass eben dies aktuell den politischen Wert der Linkspartei ausmache. „Wählen Sie uns, wenn Sie die SPD sozialer und die Grünen grüner machen wollen.“

Gregor Gysi ist ein unterhaltsamer Erzähler. Trotz mancher mit Zahlen gespickter Passagen in seinen Wahlkampfreden, in denen er oberlehrerhaft die Politik, die Welt oder die Ökonomie erklärt, versteht er es, sein Weltbild gefällig zu präsentieren. Verbissen oder scharf wirkt er eigentlich nie. Der gnadenlose Einpeitscher, den Oskar Lafontaine repräsentierte, entspricht nicht seinem Rollenverständnis. Gysi kleidet seine Weltsicht in Anekdoten und würzt sie mit Selbstironie. Der Anwalt liebt den Diskurs, und er genießt es, Beifall und Gelächter für seine Scherze einzustreichen. „Du kannst ja mit neunzig noch im Bundestag rumdödeln, ohne dass es einer merkt. Aber da kannst du kein Dach mehr decken“, sagt er mit herausfordernder Koketterie. „Genau!“, brüllt einer im Publikum.

Politik betreibt er mit Leidenschaft. Foto: dpa

Fast zwölf Prozent der Stimmen bei der vorigen Bundestagswahl krönten den Aufstieg der Linken seit ihrer Parteigründung im Jahr 2007. Das galt damals vor allem als Lafontaines Erfolg. Heute will Gregor Gysi beweisen, dass die gesamtdeutsche Linke auch ohne Oskar Lafontaine bestehen kann, und er muss es vielleicht auch. Nach 2009 wurde nämlich die Siegserie der Linken unterbrochen; bei den Landtagswahlen im Westen fuhr die Partei zuletzt wieder eine Niederlage nach der nächsten ein.

Als ein Wahlziel hat Gregor Gysi optimistische zehn Prozent ausgegeben. Die anderen Ziele sind nicht ganz so transparent. Ob die Lockrufe vor allem den Zweck haben, den Sozialdemokraten mit der verbreiteten Angst vor einer rot-rot-grünen Koalition die Ernte zu verhageln? Oder will Gysi wirklich den Boden für ein linkes Dreierbündnis bereiten? Gleich zwei Leitmedien sehen Gysi auf historischer Mission, wenn auch mit unterschiedlicher Richtung. Die „Zeit“ schreibt Gysi die Rolle zu, die Linkspartei in die – seit dem Abschied von der Macht – resozialdemokratisierte SPD heimzuführen. Laut „Spiegel“ ist Gysi dabei, seine Partei ins Vorzimmer der Macht zu führen, also als regierungsfähige eigenständige Partei dauerhaft zu etablieren. Dass die Sozialdemokraten seinem Werben bis jetzt konsequent die kalte Schulter zeigen, ficht Gysi nicht an. „Der SPD fehlt einfach der Mumm“, hat er in einem Interview gesagt. Die Sozialdemokraten brauchten Zeit. „Aber es wird Unruhe geben nach der Wahl.“ Gregor Gysi sieht aus, als freue er sich schon darauf.