Das kleine Amazonasvölkchen der Pirahã spricht, pfeift und summt auf ganz besondere Art und Weise.

Brasilia - Da steht Daniel Everett nun, lässt erst ein, dann zwei Holzstöckchen fallen und passt genau auf, was der Amazonasindianer Kóxoí dazu sagt. Die Laute und Tonhöhen notiert sich der US-amerikanische Missionar und Sprachwissenschaftler in sein Büchlein. Dann wiederholt er die Prozedur mit einem Laubblatt und hofft, nun neben den beiden Hauptworten auch die Zahlen eins und zwei entschlüsselt zu haben.

Er irrt sich, wie so häufig in den darauffolgenden Jahren. Denn Leben und Sprache des Amazonasvölkchens der Pirahã sind so außergewöhnlich, dass Forscher sich nur mühsam an sie herantasten können. Dabei machen es die Pirahã Fremden einfach: Die Indianer sind freundlich, einladend und hilfsbereit. Aggressives Verhalten kommt bei ihnen so gut wie nicht vor. Sie lachen viel. Everett bezeichnet sie als das glücklichste Volk, das ihm je begegnet sei.

Zahlen kommen in ihrem Leben und ihrer Kultur nicht vor


Rast und Ruhe finden die Familien der Pirahã in einfachen Hütten - einige Stöcke, über die Palmwedel ausgebreitet sind. Jede frischere Brise Wind fegt diesen Leichtbau hinweg, doch die Indianer ficht das nicht an. Sie nehmen es eher mit Humor und bauen sich bald darauf ein neues Dach. Die Männer fischen im Amazonasnebenfluss Maici oder jagen im Dschungel. Die Frauen sammeln Nüsse, Früchte, Wurzeln und ziehen die Kinder groß. Die Indianer sind optimal an dieses Leben am Fluss und im Dschungel angepasst.

Zunächst dachte Everett, dass die Pirahã "eins - zwei - viele" zählen, doch das stellte sich später als Missverständnis heraus. Zahlen kommen in ihrem Leben und ihrer Kultur nicht vor. Die Worte, die Everett für Zahlen hielt, sind vielmehr grobe Mengenangaben und entsprechen der Einteilung "ganz wenig - ein bisschen - viele". Sätze wie "Ich habe zwei kleine Fische gefangen" und "Ich habe einen großen Fisch gefangen" sind bei den Pirahã identisch.

Die Pirahã sprechen nur über das, was sie selbst erlebt haben


Eine Besonderheit bei den Pirahã sei, dass sie zwar schon mehr als hundert Jahre in Nachbarschaft mit portugiesischsprachigen Menschen leben, es in dieser Zeit aber keinerlei sprachlichen Austausch gab, sagt Robert Van Valin, Sprachforscher an der Universität Düsseldorf. Everett musste also bei null anfangen. Eine weitere Besonderheit, die er entdeckte: die Pirahã haben keine Worte für Farben. Rot etwa entspricht in Pirahã eher der Beschreibung "so wie Blut" oder "so wie eine Beere", Grün entspricht "wie eine unreife Frucht", Schwarz wie "schmutziges Blut". Wenn Everett Sprache und Leben der Pirahã beschreibt, macht er das natürlich zunächst aus seiner amerikanischen Forscherperspektive. Das heißt, es fällt ihm zunächst auf, was die Sprache der Pirahã im Vergleich zur indogermanischen Sprachfamilie eben nicht hat und nicht zu leisten vermag. Kritische bis hämische Fachkollegen haben ihn daher des Rassismus geziehen.

Everett weist das von sich. Er sieht Leben, Kultur und Sprache der Pirahã auf eine einzigartige Art ineinander verwoben. Grundlage ist das von Everett sogenannte Prinzip der unmittelbaren Erfahrung: Die Pirahã verstehen und sprechen nur über das, was sie selbst oder ein persönlich bekannter Augenzeuge gesehen oder erlebt haben. Sie leben im Hier und Jetzt. Das hat Vorteile: Die Pirahã machen sich keine Sorgen und schleppen keine Ängste aus der Vergangenheit mit sich herum. Und sie haben kein Interesse, von anderen Kulturen Anregungen aufzunehmen.

Durch die Pirahã legte Everett seinen christlichen Glauben ab


Seine erste Mission sah Everett daher bald scheitern: 1977 besuchte er die Pirahã zunächst als Missionar. Er kehrte regelmäßig wieder, mal für wenige Wochen, mal mit der Familie für ein knappes Jahr. Sein Ziel war allerdings nicht, die Indianer direkt zu bekehren, sondern die Sprache der Pirahã zu dokumentieren und anschließend das Neue Testament für sie zu übersetzen. Das Wort Gottes sollte für sich sprechen. Doch so weit kam es erst gar nicht. Wann immer Everett über seinen Glauben sprach, fragten die Pirahã, ob er diesen Jesus persönlich kenne. Auf Everetts Nein reagierten sie mit Desinteresse, sinngemäß in der Form: Wieso sollte ich mich für jemanden interessieren, den keiner kennt? Everett wandte sich in der Folge ausschließlich der Forschung zu. Persönlich fand er seine Erfahrungen mit den Pirahã so überzeugend, dass er selbst den christlichen Glauben ablegte. Seine Familie zerbrach daran.

Everetts zweite Mission erscheint Außenstehenden wie eine Spitzfindigkeit: die Sprache der Pirahã habe keine Nebensätze, behauptet er. Sätze, die ineinander verschachtelt sind, gebe es dort nicht, etwa wie im Deutschen: "Ich glaube, dass Marie weiß, dass Elisabeth Walter geküsst hat." oder: "Der Mann, den ich dort hinten sah, hat das Auto gestohlen." Die Pirahã reihen vielmehr Hauptsatz an Hauptsatz, wie bei einer Perlenkette.