Erik Sturm setzt sich mit der Oberfläche seiner Stadt auseinander. Für den Beitrag der Stuttgarter Zeitung zur Langen Nacht der Museen am Samstag inszeniert er das Gegensatzpaar Feinstaub und Moos auf noch nie gesehene Weise.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Stuttgart - Im Osten nichts Neues. Dicke Luft am Neckartor. Die Feinstaubwerte sind hoch. Und dennoch wagt sich ein Künstler an die Fensterbänke des Amtsgerichts. Geschützt von einer Atemmaske, kratzt er den Feinstaub von den Fenstersimsen und aus Hohlräumen oder Kabelschächten, in denen sich das Material teilweise jahrelang ablagern konnte. Am Ende dieser eher ungewöhnlichen Kehrwoche stehen mehrere Kilo der heftig diskutierten Materie.

 

Erik Sturm ist Neuzeitarchäologe, Konzeptkünstler und Bildhauer, der sich mit zeitbasierten Phänomenen beschäftigt, in einer Person. Der Absolvent der hiesigen Akademie der Bildenden Künste arbeitet sich an den Oberflächen seiner Heimatstadt ab. Dabei beschäftigt sich der 35-Jährige mit Themen, die er in Stuttgart beobachtet, die aber universell zu betrachten sind, wie Werbung, Mobilität, Baustellen.

Den am Neckartor sichergestellten Feinstaub hat er wie ein Pigment als Grundlage zur Herstellung von Farbe verwendet. Die wiederum wurde in Tuben abgefüllt und diente zur Herstellung von schwarzen, monochromen Bildern. Drei dieser Feinstaubreliefs hängen seit Kurzem im Stuttgarter Kunstmuseum. Dieses Gemisch aus Wasser, Feinstaub und Leim sieht aus wie die Flagge der Dystopie, wie drei Seiten des Bühnenbildes für ein Urknall-Drama. Weniger bedrohlich sind die Aufnahmen, die Feinstaub in der Größe eines Tausendstelmillimeters zeigen. In dieser Ansicht könnten die bizarren Motive auch winzige Teile eines Korallenriffs sein.

Gezeigt werden die Fotos zum ersten Mal überhaupt diesen Samstag bei der vom „Stuttgartmagazin Lift“ veranstalteten Langen Nacht der Museen. Unter dem Titel „Frischluftalarm im Feinstaubzirkus“ setzt sich Sturm mit den Gegensatzpaaren Feinstaub und Moos, Stadt und Natur, Mensch und Umwelt auseinander. Unterstützt wird er dabei von Anton Aldinger und Medientechniker Faris Al-Rubaiie. Die Kunstaktion findet in einem Zirkuszelt statt, stellt den offiziellen Beitrag der StZ zur Museumsnacht dar und wird nur an diesem Abend auf dem Schlossplatz zu sehen sein.

Sturm legt das Unsichtbare frei

100 000-Euro-Frage bei „Wer wird Staub-Millionär?“: Wie kommt man darauf, sich so intensiv mit Feinstaub auseinanderzusetzen? Erik Sturm fragt zurück, ob man etwas Zeit hätte und bittet zum Gespräch in ein schlicht „Haus“ getauftes Gebäude am Ende der Kulturmeile. Hier findet Kunstproduktion inmitten von S 21 statt: Das ehemals herrschaftliche Gebäude diente lange Zeit als Polizeidirektion, stand dann leer und wird seit Kurzem von Sturm und seinen Mitstreitern als Ort für Gegenwartskultur genutzt. Zuvor hatte Erik Sturm von 2012 bis 2017 den benachbarten Projektraum Lotte betrieben.

Draußen der Soundtrack der autogerechten Stadt, drinnen überraschende Stille. Wo anfangen im Sturm’schen Universum? Wie so oft im Leben konnte die Beschäftigung mit etwas Nahliegendem erst mit einem Orts- und Perspektivwechsel beginnen. Die Auseinandersetzung mit Staub nahm in Budapest ihren Anfang. Dort hatte Sturm 2012 sein Auslandssemester absolviert. „Ich habe auf der Buda-Seite gewohnt und auf der Pest-Seite studiert. Mein Weg zur Uni führte durch einen Tunnel, der unter dem Regierungssitz von Viktor Orbán verläuft“, sagt Sturm. In dem Tunnel, der eine heimelige Stimmung wie der Wagenburgtunnel verströmt, hat Sturm eine 400 Meter lange Linie geputzt. „In der einen Hand hatte ich Flanell-Handtücher, in der anderen Glasreiniger.“ Diese „Negativlinie“ genannte Arbeit zeigt, was Sturm macht: Er legt Schichten frei und schafft das, was sonst nur Magier können: das Unsichtbare sichtbar machen, um mit unkonventionellen Materialien künstlerisch arbeiten zu können.

Reinigung ist ein wiederkehrendes Motiv in Sturms Schaffen. In Budapest wurde sie 2012 zum Ausgangspunkt für seine Beschäftigung mit Feinstaub in Stuttgart. Am Ende steht für ihn aber keine Positionierung, sondern die Ambivalenz. „Staub ist ein solch komplexes Thema, dafür gibt es keine einfachen Lösungen. Ich bin Künstler und kein Aktivist, mir geht es um Kunst und die Auseinandersetzung mit dem Material.“ Sturm erzählt von einem Wissenschaftler, der früher bei der Autoindustrie gearbeitet hat und heute bei einem Abgasforschungsinstitut angestellt ist. Mit diesem Experten steht Sturm im Austausch über die Materie. Aktueller Status in dieser verflixten Staub-Sache: Es ist kompliziert.

Bohrmeißel bezwingt Doppel-T-Träger

Sturm bittet um eine kurze Pause und führt den Besucher auf einen winzigen Balkon, von dem aus man einen Logenblick auf die S-21-Reise zum Mittelpunkt der Erde hat. Abschalten kann der Künstler nicht, stattdessen hält er einen Stegreifvortrag über die Bohrköpfe, die hier eingesetzt werden, und über die Menge an Stahl, die hier verbaut wird. Wenn Sturm loslegt, wechselt er in Lichtgeschwindigkeit vom Künstler zum universal interessierten Denker mit temporärem Ingenieurschwerpunkt und wieder zurück. Mit der Urgewalt von Bohrköpfen in der scheinbar ewigen Stuttgart-21-Auseinandersetzung hatte sich Sturm in seiner Arbeit „Zeit. Stadt. Wert“ am Hospitalhof befasst. Im Zentrum dieses Werks stand ein in den Hof des Hospitalhofs ragender, grau-schwarz polierter Doppel-T-Träger. Der Träger hatte im S-21-Untergrund geschlummert, war durch die Macht eines der Bohrmeißel, die auf der Bahnhofsbaustelle eingesetzt werden, unsanft geweckt und mit Urgewalt um den Bohrkopf gewickelt worden. Sturm hatte das verdrehte Objekt zufällig entdeckt und in wochenlanger Feinarbeit gereinigt. „Bei diesem Objet trouvé geht es um ein Relikt, das die Krafteinwirkung der städtischen Umwälzungen zeigt.“

Zuvor beschäftigte sich der Konzeptkünstler in beispielloser Ausdauer mit einem anderen Material. 2010 hatte er in Feuerbach die älteste Litfaßsäule Stuttgarts identifiziert und auf eigene Kosten abbauen lassen. „Ich habe die Säule im Bildhauergarten der Kunstakademie parken dürfen“, erzählt Sturm, der dort sein Kunstobjekt Schicht für Schicht entblätterte. Zum Vorschein kamen Werbeplakate, die wie ein Daumenkino der vergangenen 40 Jahre zu lesen sind und zum Teil bereits ausgestorbene Sehnsuchtsfiguren der Zeitgeschichte zeigen, etwa den ins Lungensanatorium der Geschichte vertriebenen Marlboro-Mann. Das älteste Plakat stammte von 1979 und warb für einen Skisprung-Event im Schwarzwald.

Kunst auf Schwarzwaldmoos

Der Schwarzwald passt zum Schluss der Auseinandersetzung mit dem Sturm’schen Werk besonders gut. Die Feinstaub-Aufnahmen in Nano-Größe, die Sturm bei der Museumsnacht zeigt, werden auf Moos-Wänden aus dem Schwarzwald präsentiert. Dafür hat Sturm sich dasselbe Moos besorgt, das die Firma Vertiko in Buchenbach züchtet und für die Stadt Stuttgart am Neckartor als Experiment der Luftreinhaltung einsetzt. Das Moos als Grundlage für den ersten Frischluftalarm Stuttgarts: Anspruchsvoller als durch den Neuzeitarchäologen vom Neckartor wurde in dieser Stadt noch nie stoßgelüftet.