In der Weißenhof-Werkstatt ist über Stadtentwicklung in Rotterdam und Stuttgart diskutiert worden. Und siehe da: Rotterdam hat bei zukunftsträchtigen und menschenfreundlichen Projekten die Nase vorn.

Stuttgart - Kräuter überwuchern Schienen, Vögel nisten im dichten Gesträuch, Eidechsen sonnen sich auf alten Mauern: Brachgefallene Industrie- und Bahngelände sind oft wahre Biotope, im wortwörtlichen, manchmal auch im übertragenen Sinn. Wie viel Wildwuchs verträgt die Stadtplanung? Oder besser: wie viel muss sie zulassen, damit sich etwas Neues entwickeln kann? Dass bei herkömmlichen Verfahren oft nur öde Monokultur herauskommt, ist in Stuttgart an vielen Ecken und Enden zu besichtigen. Aber auch das Gegenteil, etwa am Inneren Nordbahnhof und an einigen anderen Orten der Stadt.

 

Zum Auftakt einer Ausstellung in der Architekturgalerie am Weißenhof brachten die Galerie und der Kurator Thomas Rustemeyer Akteure aus Stuttgart und Rotterdam zusammen, die mehr als vier angeregte Stunden lang ihre Projekte präsentierten und diskutierten. Aus Stuttgart: Wulf Kramer von Ebene 0, dem Projektraum im Züblin-Parkhaus zwischen Bohnen- und Leonhardsviertel; Robin Bischoff vom Kunstverein Wagenhallen; sowie das Architektenduo Peter Weigand und Lukasz Lendzinski vom Büro Umschichten.

Vorreiter Rotterdam

Für Kenner der Stuttgarter Szene interessanter, da größtenteils neu, waren die Projekte aus Rotterdam, allen voran der Leeszaal, den Joke van der Zwaard vorstellte. Als die Stadt ankündigte, 19 Stadtteilbibliotheken zu schließen, sondierte die Soziologin zunächst einmal, wer sich bereit erklären würde, Zeit und Energie zu investieren. Ein 250 Quadratmeter großer, leerstehender Raum wurde ihr von einer Sozialwohnungsgesellschaft zunächst für einen Monat, dann für drei Jahre zur Verfügung gestellt, für tausend Euro im Monat. Von Anfang an achteten die Initiatoren auf Qualität, aber auch auf Diversität. Es ist keine Ersatzbibliothek geworden, obwohl der Lesesaal inzwischen 30 000 Bücher angesammelt hat, die jeder mitnehmen, wer will aber auch behalten kann. Ebenso kann jeder Veranstaltungen, Kurse, Lesungen oder Workshops anbieten. Rund dreißig Freiwillige halten den Raum fünf Tage in der Woche geöffnet: ein freier Ort des Lesens und selbstbestimmten Lernens.

Da kann die Ebene 0 mit zwei offenen Abenden pro Woche und gelegentlichen Festen auf dem Dach des Parkhauses nicht mithalten. Die Architekten, die vor vier Jahren den Raum entdeckten, waren zuerst selbst überrascht, dass der Parkhaus-Betreiber sich von ihrer Idee durchaus angetan zeigte. Insbesondere das Urban Gardening über den Dächern der Stadt hat eine neue Note ins sommerliche Stuttgarter Nachtleben gebracht. Robert de Vrieze hat es sich mit seinem Büro Transformers und der bei einem Glas Wein erdachten Partei WIJ („wir“) zur Aufgabe gemacht, die selbst organisierte Nutzung leerstehender Räume und den Dialog mit Politik und Verwaltung zu organisieren. Marte Kappert ist in ihrem Projekt Marconia dabei, ein 30 000 Quadratmeter großes Ödland im Rotterdamer Hafengebiet mit lokalen Architekten, Designern und Bewohnern der angrenzenden Viertel weiterzuentwickeln.

Demgegenüber ist der Kunstverein Wagenhallen zunächst einmal ein Zusammenschluss vieler Künstler, die in der alten Halle und Nebengebäuden ihre Ateliers und Studios haben. Nun aber steht nicht nur die Renovierung bevor, sondern der Innere Nordbahnhof wird zum Kern des Rosensteinviertels, ein Prozess, zu dem auch die Künstler ihren Beitrag leisten wollen. So hat das Büro Umschichten, im Austausch mit israelischen Partnern, Vorstöße in das benachbarte Wohnviertel am Nordbahnhof unternommen, die von allen Seiten als große Bereicherung wahrgenommen wurden: ein deutliches Indiz, dass ein wenig Wildwuchs nicht schaden kann.