Juwel zu später Sendezeit im Ersten: „Winterreise“ erzählt die tragische Geschichte des jüdischen Musikers Günther Goldschmidt.

Ein Mann im Zwiegespräch mit seinem Vater und das knapp neunzig Minuten lang: „Winterreise“ hätte ein äußerst ermüdender Film werden können, trotz des faszinierenden Themas. Tatsächlich führen die Amerikaner Martin und Georg Goldsmith eine Unterhaltung, wie sie wohl nicht allzu oft stattgefunden hat: weil die meisten Väter nie über ihre Erlebnisse und Erfahrungen während der Zeit des Nationalsozialismus gesprochen haben, ganz gleich, ob sie Täter oder Opfer waren.

 

Warum wurde der Vater in Amerika nicht glücklich?

Georg Goldsmith hieß früher Günther Goldschmidt. Es ist dem einstigen Flötisten gelungen, Deutschland im Sommer 1941 gemeinsam mit seiner Frau zu verlassen und in die Vereinigten Staaten von Amerika auszuwandern. Auf der Suche nach seinen Wurzeln erfährt sein Sohn Martin, warum Georg, der doch offenbar Glück im Unglück gehabt hat, nie wieder musiziert hat und in den USA nicht glücklich geworden ist.

Der Sohn befragt den Vater

Der Film basiert auf Martin Goldsmiths Buch „Die unauslöschliche Symphonie. Musik und Liebe im Schatten des Dritten Reiches – eine deutsch-jüdische Geschichte“. Der Amerikaner hat gemeinsam mit dem Regisseur Anders Østergaard das Drehbuch geschrieben und wirkt auch selbst mit, allerdings nur akustisch: Er stellt die Fragen, auf die sein Vater antwortet; zu sehen ist er jedoch nie. Der Däne Østergaard wiederum ist ein erfahrener Dokumentarfilmer. Trotzdem ist „Winterreise“ eher ein Spielfilm, und das liegt in erster Linie an Bruno Ganz. Der im Februar 2019 verstorbene Schweizer hat sich die Rolle des Vaters derart angeeignet, dass die Gesprächspassagen tatsächlich dokumentarisch wirken; wer ihn nicht kennt, wird wirklich glauben, dass hier ein Sohn mit dem leibhaftigen Vater redet. Das Gesicht des Schauspielers spiegelt die Erinnerungen wider, das Glück mit Ehefrau Rosemarie wie auch das spätere unermessliche Leid: Die Nationalsozialisten haben seine komplette Familie ausgelöscht. Bruno Ganz beantwortet Martins Fragen in amerikanischem Englisch, fällt aber zwischendurch immer wieder ins Deutsche.

Elternhaus in Oldenburg

Ähnlich faszinierend wie der Hauptdarsteller ist Østergaards Konzept, selbst wenn es sich auf den ersten Blick am üblichen Schema des Dokudramas orientiert: Der Regisseur illustriert die Erzählungen des alten Mannes – die Rahmenhandlung spielt 1996 in Arizona – mit zeitgenössischen Aufnahmen aus der Zeit des Dritten Reichs; aber das macht er auf ungemein kunstvolle Weise. Die erste Zeitreise findet in den sechziger Jahren statt, als Georg seiner Familie das einstige Elternhaus in Oldenburg zeigen will. Diese Rückblende ist eine eindrucksvolle Montage aus echten Bildern jener Jahre mit neu gedrehtem Material.

Bei Georgs Erzählungen aus den dreißiger Jahren ist Østergaard anders vorgegangen: Hier lässt er das von Leonard Scheicher verkörperte junge Alter Ego des Erzählers durch täuschend authentisch wirkende nachgestellte Fotografien wandern. Das Ergebnis ist verblüffend, erst recht, wenn auf einem Orchesterbild vor dem Fenster plötzlich Flammen in die Höhe schlagen: Draußen verbrennen die Nazis Bücher.

Kunstvolle Bildmontagen

Günther hat die Musikhochschule in Karlsruhe besucht, musste das Studium jedoch 1935 abbrechen, als die Nationalsozialisten die sogenannten Nürnberger Rassegesetze erließen. Seine musikalische Heimat wurde nun der Jüdische Kulturbund, dort traf er auch Rosemarie. Die Selbsthilfeorganisation wurde von den Faschisten geduldet: Man glaubte, die Mitglieder auf diese Weise kontrollieren zu können; außerdem galten die Veranstaltungen, die nur von Juden besucht werden durften, gegenüber dem Ausland als Beleg dafür, dass jüdische Künstler keineswegs unterdrückt würden. Wenige Monate nach der Ausreise von Günther und Rosemarie wurden der Kulturbund aufgelöst und seine Mitglieder in Konzentrationslager verschleppt.

Seinen Titel verdankt der vom NDR koproduzierte Film Franz Schuberts gleichnamigem Liederzyklus. Gleich zu Beginn singt der Vater zwei Zeilen, die sein Dasein in Amerika perfekt beschreiben: „Fremd bin eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus.“

Winterreise: 12. November, 00.20 Uhr, ARD