Die deutschen Schwimmer warten seit 2008 auf eine Olympiamedaille – und müssen sich nach der Verlegung der Spiele ein weiteres Jahr gedulden. DSV-Sportdirektor Thomas Kurschilgen erklärt, was er von seinem Team erwartet – und was er sich vom neuen Sportbad in Stuttgart erhofft.

Stuttgart - Die deutschen Schwimmer haben in den vergangenen Jahren viele Enttäuschungen und interne Querelen erlebt. In Weltmeister Florian Wellbrock gibt es wieder einen Weltmeister – und in Thomas Kurschilgen (60) seit September 2018 einen DSV-Leistungssportdirektor, der große Ziele hat.

 

Herr Kurschilgen, an diesem Wochenende hätten die Olympischen Spielen in Tokio beginnen sollen – jetzt bleibt ein weiteres Jahr zur Vorbereitung. Ein Vor- oder Nachteil?

Für einige unserer hochtalentierten jüngeren Athletinnen und Athleten ist ein weiteres Jahr der Entwicklung auf dem Weg in die Weltspitze sicherlich positiv zu sehen. Allerdings hätten wir uns nach den sieben Medaillen bei der WM 2019 in Südkorea den nahtlosen Übergang zu Tokio 2020 sehr gewünscht. Die Verschiebung der Spiele war allerdings richtig und alternativlos.

In Florian Wellbrock gibt es wieder einen deutschen Weltmeister. Trauen Sie ihm auch in Tokio die Goldmedaille zu?

Florian Wellbrock hat eindrucksvoll unter Beweis gestellt, dass er zur absoluten Weltklasse gehört. Mit dem historischen Weltmeister-Doppel im Becken und im Freiwasser ist ihm etwas Einzigartiges gelungen. Ich bin überzeugt: Bei einer störungs- und verletzungsfreien Vorbereitung auf Tokio kann er auch in Japan aufs Podium schwimmen.

Was macht Sie so sicher?

Florian hat gelernt, mit Niederlagen umzugehen, diese zu verarbeiten und in positive Energie zu wandeln. Er ist zielstrebig, gewissenhaft, mental stark und wird in einem guten Umfeld am Bundesstützpunkt in Magdeburg von zwei herausragenden Trainerpersönlichkeiten (Bernd Berkhahn und Norbert Warnatzsch, Anm. d. Red.) betreut. Die ist ein sehr starkes Gesamtpaket.

Wie wichtig wäre es, dass es nach Britta Steffens Doppelsieg 2008 in Peking wieder einen deutschen Olympiasieger gibt?

Nach den medaillenlosen Spielen in London und Rio erscheint es mir unerlässlich, dass wir diesen Rucksack in Tokio ablegen müssen. Ich bin zuversichtlich, dass es den Trainerteams dieses Mal gelingt, eine größtmögliche Anzahl von Aktiven bestmöglich auf den Jahreshöhepunkt vorzubereiten.

Wie lange ist der Weg zurück in die Weltspitze?

Im Freiwasserschwimmen sind wir bereits in die Weltspitze zurückgekehrt. Im Beckenschwimmen konnten wir uns bei der WM unter den besten zehn Nationen platzieren. Die absolute Weltspitze wird hier seit vielen Jahren von den USA und Australien dominiert, gefolgt von Russland und China. Bis Olympia 2024 muss unser Ziel sein, im Weltmaßstab einen Platz unter den besten acht und im europäischen Maßstab unter den besten vier bis fünf Nationen einzunehmen.

Vor Ihrer Zeit galt die Zentralisierung als das vermeintliche Erfolgsrezept. Täuscht der Eindruck, dass nun die Landesverbände an Bedeutung gewinnen und die Athleten mehr Freiheiten haben, auch was die Wahl ihres Lebensmittelpunkts betrifft?

Spitzenleistungen entwickeln sich in einem langfristigen Prozess. Bis ein Athlet den Sprung in einen Bundeskader schafft, hat eine Vielzahl von Akteuren seine Leistungsentwicklung unterstützt und gefördert. Dies gilt es als Spitzenverband in einem föderalen System zu respektieren. Unter Beachtung der Besonderheiten in einer Individualsportart wie Schwimmen halte ich gleichzeitig eine grundsätzliche Konzentration der Olympia- und Perspektivkaderathleten an einen Bundesstützpunkt im langfristigen Leistungsaufbau für erforderlich.

Welche Rolle spielt in diesem Zusammenhang der Landesleistungsstützpunkt in Stuttgart, der als Ergänzung zum Bundesstützpunkt Heidelberg entstehen soll?

Das Land Baden-Württemberg ist für uns ein immens wichtiger Partner in der Förderung des Leistungssports. Wir arbeiten gerade intensiv daran, den Bundesstützpunkt in Heidelberg mit einem Netzwerk an Landesstützpunkten in der Region zu einem Exzellenzzentrum für Schwimmen auszubauen. Nur über diese Wege sind in einem Flächenland wie Baden-Württemberg Weltklasseleistungen zu entwickeln. Im Wasserball streben wir bis 2024 eine Bundesstützpunktanerkennung des Standortes Stuttgart an.

Welche Hoffnungen setzen Sie in das neue Sportbad, das die Stadt Stuttgart derzeit baut?

Natürlich wünschen uns eine Unterstützung des Leistungssports in Stuttgart und setzen darauf, dass wir diese fantastische neue Infrastruktur im täglichen Training sowie für Lehrgangsmaßnahmen hinreichend nutzen können. Dazu bedarf es eines abgestimmten Verfahrens mit den Vereinen, dem Freizeit- Breiten- und Gesundheitssport.

Für größere Meisterschaften wird das Bad zu klein sein. Hätten Sie sich ein größeres Bekenntnis der Stadt zum olympischen Sport gewünscht? Beim Umbau der Fußballarena für die EM 2022 wird nicht gespart.

Da ich erst seit Mitte 2018 für den DSV tätig bin, war ich in die Planungen nicht involviert. In der Tat benötigen wir im deutschen Schwimmsport über Berlin hinaus Sportstätten mit internationalem Anspruch.

Haben Sie den Eindruck, dass der Leistungssport in unserer Gesellschaft überhaupt die nötige Unterstützung bekommt?

Die Zahl derer, die das Wagnis Leistungssport auf sich nehmen, ist in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen. Das lässt sich auf gesellschaftliche Gründe zurückführen, etwa auf die Frage, wie viel Verständnis in den Schulen, Hochschulen und Unternehmen dem Leistungssport entgegengebracht wird. Leistungssport ist eine Karriere auf Zeit, mit vielen Risiken. Der Traum einer internationalen Medaille bleibt nur einem ganz kleinen Kreis vorbehalten. Entscheidend ist daher: Wie viel Anerkennung bekommt ein junger Athlet? Und inwiefern wird sein Streben nach Höchstleistung von der Gesellschaft, den Eltern, den Freunden während und auch über die leistungssportliche Karriere hinaus akzeptiert?

Mit welchen Argumenten überzeugen Sie junge Menschen, ihr Leben dem Schwimmen unterzuordnen?

Für mich verkörpert der Leistungssport immer noch Tugenden und Werte wie Leistungswille, Teamgeist, Fairness und Integrität. Als Leistungssportler kann ich einer ganz besonderen und direkten Weise erfahren, wie sich Fleiß, Engagement und kontinuierliche Arbeit positiv auf ein Ergebnis und die eigene Persönlichkeit auswirken. Von diesen Erfahrungen kann eine Athletin oder ein Athlet ein Leben lang profitieren.