In einem Alter, in dem andere in ihrem Beruf so richtig durchstarten, stehen Tänzer häufig vor dem Aus: Nach langer Ausbildung und einer intensiven, aber kurzen Bühnenkarriere müssen sie sich neu orientieren. Ehemalige Tänzer des Stuttgarter Balletts berichten aus ihrem zweiten Leben – heute: Thomas Lempertz.

Kultur: Ulla Hanselmann (uh)

Stuttgart - Die Entscheidung aufzuhören fiel von einem Tag auf den anderen. „Ich war im Urlaub in Italien, und mein Bauchgefühl hat mir gesagt: Mach es jetzt!“ Das war im August 2003, vor dreizehn Jahren. Noch von Italien aus rief Thomas Lempertz seinen Ballettintendanten Reid Anderson an und vereinbarte einen Termin.

 

Damals war er 28 Jahre alt, und mit seinem damaligen Partner Friedemann Vogel gehörte er zu den Publikumslieblingen des Stuttgarter Balletts: „ein Vollbluttänzer“. Von Kindesbeinen an hatte sich Thomas Lempertz mit Haut und Haaren dem Tanz verschrieben: Schon im Alter von sechs Jahren ging der gebürtige Pforzheimer in die Ballettschule, durchlief dann die harte Ausbildung an der John Cranko Schule und stürzte sich nach dem Abschluss ins Tänzerleben: Halbsolist, Solist, eine Rolle nach der anderen – es lief, sogar wie am Schnürchen. Doch plötzlich hatte er das Gefühl: „Das kann nicht alles gewesen sein. Es muss noch eine andere Welt außerhalb des Tanzes geben. Ich muss raus! Revolution!“

Vom Ballettsaal ins Kurzwarengeschäft

Die neue Spielzeit damals fing ohne ihn an. Einen Plan hatte er nicht. Lediglich diesen einen Gedanken im Hinterkopf: einmal einen eigenen Laden haben. Der Rest war Zufall, und wieder ging es schnell: Im Oktober erfuhr er, dass das alteingesessene Kurzwarengeschäft „Winy’s Modewaren“ am Charlottenplatz vor dem Aus stand. Er kannte den Laden, liebte ihn: „Eine Wand mit 140 Schubladen für Knöpfe, farblich sortiert, von weiß ganz links bis schwarz ganz rechts, total verstaubt, mit Teppichboden, aber was für ein Flair!“ Einen Tag später entschloss er sich, das Geschäft zu übernehmen, 2004 feierte es, umgebaut und das Sortiment mit außergewöhnlichen Accessoires erweitert, unter dem Namen „Goldknopf“ unter Lempertz’ Ägide Neueröffnung.

Thomas Lempertz sitzt in dunklen Jeans auf einem Sofa in der Kantine des Opernhauses, während er von seinem Ausstieg aus dem Tänzerleben erzählt. Seine Augen leuchten, die Sätze sprudeln nur so aus ihm heraus, er kann seine Zuhörer fesseln, egal, ob er vom Tanzen, von Knöpfen, Borten und Bordüren, von Kollektionen, Kostümen oder vom Kunststudium erzählt. Denn so ging es weiter: Den Knopfladen baute er zum Couturier-Haus um, das maßangefertigte Mode schneiderte; dann kam nach zehn Jahren der nächste Schwenk in Richtung Kostümbildnerei – und „der Kreis schloss sich zurück zum Theater“, wie er sagt. Er nutzt seine Ballettkontakte, entwirft Kostüme für die Kompanie am Eckensee, für den Hauschoreografen Marco Goecke, für Bridget Breiner und viele andere.

Heute ist Thomas Lempertz freier Künstler: Kostümbildner oft, Tänzer manchmal

Seit zwei Semestern ist er zudem als Gaststudent an der Stuttgarter Kunstakademie im Studiengang Intermediales Gestalten eingeschrieben. In der Arbeit, mit der er sich bewarb, habe er sich selbst und seine Biografie zum Gegenstand gemacht: Er entwarf Kostüme, kreierte eine Choreografie, performte sie, filmte sich dabei und reichte das Ergebnis ein. „Ich habe mich quasi selbst installiert.“ Eine neue Herausforderung – für ihn eine logische Konsequenz seines Werdegangs: „Hier kann ich alles, was ich gemacht habe und was mich geprägt hat, zusammenführen: den Tanz, die Mode, die Kostüme, die Selbstständigkeit.“

Der 41-Jährige mit dem dunklen Haarschopf ist einer, der nicht stehen bleibt - neugierig, wach, immer auf der Suche. Heute genießt er es, selbst kreativ zu sein – und nicht wie als Tänzer immer nur das auszuführen, was andere vorgeben. „Die Ballettform ist so streng und hart, das hat mich auch erstickt“. Irgendwo fest angestellt zu sein : Das könne er sich nicht mehr vorstellen. „Freier Künstler“, das ist er heute. Er entwirft weiterhin Kostüme, und auch auf die Tanzbühne ist er zurückgekehrt: Im November 2015 uraufgeführten Stück „Greyhounds“ ist er einer der vier ehemaligen Solisten, die Egon Madsen in seiner Choreografie auf ihre Tanzkarriere zurückblicken lässt. Denn obwohl er seinen Entschluss aufzuhören, nie bereut habe, wie er sagt, lässt ihn der Tanz nicht los: „Einmal Tänzer, immer Tänzer heißt es, und das stimmt. Das ist so prägend für den Körper, für den Kopf, das bleibt.“ Nach so vielen Jahren habe sein Körper wieder richtig Lust gehabt zu tanzen, aber „in einem anderen Kontext, mit einem anderen Körpergefühl“.

Schon während ihrer Ausbildung sollten Tänzer ihren Ausstieg planen

„Keine Angst haben, etwas anderes ausprobieren“: Das rät Lempertz Tänzern, die jetzt jung sind und noch am Anfang ihrer Karriere stehen. Seiner Meinung nach müsste das Fördern von anderen Interessen schon in die Ausbildung integriert sein. Die Tänzer wüssten oft nicht, wie sie den Ausstieg meistern können, es mangele an Unterstützung; dass es Einrichtungen wie die Stiftung Tanz – Transition Zentrum Deutschland gibt, wüssten viele nicht.

„Im Unterbewusstsein hat jeder Tänzer das Karriereende im Kopf, aber keiner will es wahr haben. Wenn dann das Ende kommt, ist der Schock groß“. Das aber, schiebt er nach, liege in der Natur der Sache: „Tanzen funktioniert nur, wenn man es hundertfünfzigtausendprozentig macht. Es gibt dann einfach nichts anderes.“