Die Sängerin Gudrun Kohlruss engagiert sich gegen die Genitalverstümmelung von Mädchen. Jetzt wurde sie mit der Ehrenmünze der Stadt Stuttgart ausgezeichnet.
S-Ost - Wenn es abends früher dunkel wird, werden ältere Menschen, die nur noch ungern nachts unterwegs sind, „Cannstatt um vier“ wieder doppelt zu schätzen wissen: als Gelegenheit für unbeschwerte Konzertbesuche, frei von Sicherheitsbedenken. Um kulturelle Teilnahme geht es auch beim Amseltheater. 1983 von Josef Thaller gegründet, ermöglicht es Menschen, die an Multipler Sklerose erkrankt sind, im geschützten Rahmen die Vielfalt der Kunst zu erleben – und ist dabei auch ein Stück Begegnung von Menschen mit und ohne Behinderung.
Die Regionalgruppe Stuttgart von Intakt gegründet
Beide Initiativen werden ehrenamtlich getragen – federführend von der Stuttgarter Sängerin Gudrun Kohlruss. Seit fast 20 Jahren verantwortet sie das Programm der Bad Cannstatter Konzertreihe, samt dem Neujahrskonzert im Großen Kursaal. Und seit bereits 22 Jahren leitet die Künstlerin auch das Amseltheater. Beides allein wäre hinreichend gewesen, um Kohlruss mit der Ehrenmünze der Stadt auszuzeichnen: für „vielfältiges ehrenamtliches Engagement“, wie die vormalige Bezirksvorsteherin Tatjana Strohmaier bei der Verleihung sagte. Gewürdigt wurde damit aber auch der Einsatz von Kohlruss gegen die Genitalverstümmelung von Mädchen und jungen Frauen in Afrika. Dafür hat sie im Jahr 2002 die Regionalgruppe Stuttgart von Intakt gegründet. Eine Initiative, bei der sie sich auch im Bundesvorstand für nachhaltige Kampagnen und lokale Aufklärungsarbeit engagiert.
Kohlruss hat an der hiesigen Staatsoper gesungen und an vielen anderen Theatern, sie ist Mitglied des Stuttgarter Operettenensembles, gibt im In- und Ausland erfolgreich Konzerte, hat ein besonderes Faible für italienische Musik, leitet zudem die Ensembles des Chores „belcanto Stuttgart“. Hier der Glanz von Bühne und Podium, die Zuneigung zu den schönen Seiten des Lebens, dort dessen teils grausame Rückseite. Fast unwirklich könnte dieser Gegensatz wirken: „Für mich ist das kein Widerspruch. Ich bin dankbar, dass ich diesen privilegierten, schönen Beruf als Mittlerin der Musik ausüben kann. Mich haben aber menschliche Schicksale schon immer berührt.“
Erschüttert von Berichten aus Afrika
Im Übrigen könne die „innere Seite der Musik ungemein sensibilisieren für alle Facetten des Menschseins“. Und manchmal mache sie das ihn ihren Programmen auch direkt bewusst. Im Schubert-Abend „Fremd bin ich eingezogen“ etwa, wenn sie aus der verzweiflungssatten „Winterreise“ ein Programm um Flucht und Vertreibung macht. Vielfach umkreist sie musikalisch „Frauenliebe und Frauenleben“ – und findet sich „auch im sonstigen Leben besonders berührt von Frauenschicksalen“. Besonders, „dass viele Frauen ganz anders leben müssen als wir, dass sie keine Chance haben auf Selbstbestimmung und sich auch Traditionen nicht entziehen können, die sie organisch und seelisch verstümmeln“. Erschüttert hätten sie Berichte über die Praxis der Genitalbeschneidung junger Mädchen in Afrika und Asien, denen „wesentliche Aspekte des Frauseins genommen werden, die zudem in der Regel die Hauptlast des Alltages zu tragen haben“. Ihr Impuls: „Das darf so nicht weitergehen.“
Mit Intakt fand sie eine Organisation, die sich ausschließlich um diese Thematik kümmert. Ihr Beitrag: die Gründung der Regionalgruppe Stuttgart, Benefizkonzerte zur Mittelbeschaffung, Vorträge, Aufklärungsarbeit. Entscheidend sei, dass Intakt „über zuverlässige Mitarbeiter vor Ort arbeitet, teils auch die Beschneiderinnen selbst gewinnen kann“. Auf diesem Wege sei es gelungen, Benim und Togo „flächendeckend beschneidungsfrei zu machen“. Gekoppelt mit Nachhaltigkeitsprojekten, etwa im Gemüsebau, was Frauen Einkommen verschafft und Schulbildung für Kinder ermöglicht.
Die Erfolge seien „nur Etappensiege, auch wenn jedes einzelne Mädchen zählt, dem dieses Schicksal erspart bleibt“, betont Kohlruss. Als nächstes geht es um Ghana und Burkina Faso. Auch in Stuttgart macht sie weiter, hat hier eine städtische Initiative zur Betreuung von in Stuttgart gestrandeten Opfern angeregt, bereitet das Benefiz für Weihnachten vor. Dass Ministerpräsident Winfried Kretschmann die Schirmherrschaft darüber hat, freut sie ebenso wie die Auszeichnung mit der Ehrenmünze: „Das zeigt, dass das wahrgenommen wird. Das motiviert und gibt Rückenwind.“