Tobias Merckle vom Leonberger Seehaus spricht am Sonntag, 4. November 2018, in der Gerlinger Matthäuskirche. Er hat für die praktizierte Form des freien Jugendstrafvollzugs lange gekämpft.

Gerlingen - Er nennt sie „Jungs“. Nicht etwa Insassen oder gar Gefangene. Tobias Merckle ist Sozialarbeiter. Und Reformer. Er hat das Seehaus in Leonberg gegründet und für die dort praktizierte Form des freien Jugendstrafvollzugs lange gekämpft. Merckle hält am Sonntag in der Gerlinger Matthäuskirche die Predigt im Gottesdienst zum Reformationsfest. Er kann viel beitragen zum Thema „Reformation heute“. Er ist der 21. Gastprediger der 1998 begonnenen Reihe.

 

Straffällig gewordene Jugendliche, die zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden, können diese Zeit anstatt im Gefängnis im Seehaus verbringen. Sie leben dort in einer Familie, haben einen strengen Tagesablauf, arbeiten, machen eine Ausbildung oder einen Schulabschluss. Seit der Gründung vor 15 Jahren waren mehr als 200 Jugendliche im Seehaus. Die Einrichtung hat keinen Zaun. „Unsere Sicherheit ist die positive Gruppenkultur“, sagt Merckle.

Viele Prinzipien

Für den „Strafvollzug in freier Form“ gibt es viele Prinzipien: In der Familie leben, dabei Normen kennenlernen, ständig gefordert sein, Schaden wieder gutmachen, Opfer kennen lernen und mit ihnen reden. „Viele der Jungs haben nie eine wirkliche Erziehung genossen“, sagt Merckle, „es ist wichtig, dass sie lernen, dass man nicht auf Kosten anderer leben kann. “

Die Vision für das Seehaus hatte Merckle 1990, als er nach dem Abitur in Amerika mit Drogenabhängigen zu tun bekam und dafür in Gefängnisse ging. Zurück in Blaubeuren, stieg er nicht in die Pharmafirma der Familie ein, sondern suchte auf christlicher Basis seinen Weg als Sozialpädagoge: Er wollte für Jugendliche die Alternative zum Knast. Der Weg war lang, aber er fand ihn. Merckle hat auf seine Art reformiert, hat andere von seiner Vision überzeugt. Im Bibeltext (Galaterbrief, Kapitel 5, Verse 1-6) als Grundlage seiner Predigt am Sonntag ist von der Freiheit, dem Joch der Knechtschaft und dem Gesetz die Rede. Er beziehe Martin Luther und die von ihm propagierte Freiheit des Christenmenschen mit ein, erklärt Merckle. Es sei wichtig, dass der Reformator Luther „die Freiheit in den Mittelpunkt gestellt hat“. Der Reformationstag sei ein wichtiger Tag in der Kirchengeschichte. Übrigens hätten auch die „Jungs“ ihre Freiheiten: Man bringe ihnen christliche Werte nahe. „Aber jeder hat die Freiheit zu entscheiden, ob er als Christ, als Moslem oder ohne Religion leben will.“ Man verlange nur, dass sie nachdenken und sich entscheiden. Zwangsmissioniert werde keiner. „Das widerspricht meiner Ansicht vom christlichen Glauben.“

Er hat von seiner Vision überzeugt

Angelika Schnell-Herb freut sich auf Tobias Merckle. Konfirmanden der Gemeinde hätten schon das Seehaus besichtigt und am Gottesdienst in einer Werkstatt teilgenommen. „So erkennen sie die verschiedenen Aspekte des kirchlichen Lebens“, sagt die Vorsitzende des Kirchengemeinderats. Ihrer Wahrnehmung nach ist das Reformationsfest im Bewusstsein der Bevölkerung leider nicht sehr verankert. „Im vergangenen Jahr ist außer dem besonderen Feiertag kaum etwas hängen geblieben.“

Der Gottesdienst in der Matthäuskirche am Dietrich-Bonhoeffer-Platz beginnt am 4. November 2018 um 10 Uhr. Die Stuttgarter Bläserkantorei wirkt mit. Bei einem Stehempfang können sich Besucher mit Merckle austauschen.