Margriet de Moor ahnte lange nichts von ihrem Talent. Deshalb will sie heute nur noch schreiben. Ein Besuch bei ihr Amsterdam.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Amsterdam/Stuttgart - Es ist ganz einfach, ein Buch zu schreiben. Margriet de Moor hat nur zwei Linien auf einen Schmierzettel gemalt – und schon war das Konzept von „Sturmflut“ perfekt. Sie wusste, dass sie zwei Geschichten parallel erzählen will: die letzten Lebensstunden von Lidy, die im Sturm ertrinkt – und parallel dazu die 85 Jahre, die das Leben von Lidys Schwester währt, ganz simpel. Auch für den „Maler und das Mädchen“ hat Margriet de Moor kaum mehr als fünf Minuten benötigt. Sie hat eine alte Zeichnung von einem erdrosselten Mädchen gesehen – „da war das Buch da“.

 

Schreiben ist für Margriet de Moor eine leichte Übung. Verlässlich fließt eine Geschichte nach der anderen aus ihr heraus, erscheint ein Roman nach dem anderen. Das geht seit 25 Jahren so. De Moor hat spät mit dem Schreiben begonnen, sie war schon fast fünfzig und hatte bereits ein buntes Leben hinter sich. Seither tut de Moor kaum etwas anderes als schreiben. „Ich habe nicht mehr aufgehört“, sagt sie, „das ist schon lustig.“

Es ist lustig, aber auch schwer vorstellbar, dass de Moor 45 Jahre lang nicht einen Moment daran dachte zu schreiben, dass es ihr überhaupt nie in den Sinn kam. Die ersten Geschichten sind „fast nebenbei“ entstanden. Sie schickte sie an einen Verlag – und die Erzählsammlung „Rückenansichten“ wurde ein Erfolg. „Das erste Buch war sofort gut“, sagt de Moor, „ich habe nur Geschichten und Romane, die wirklich gelungen sind, das ist sehr merkwürdig.“ Das klingt unbescheiden, aber es ist eher so, als ob de Moor bis heute nicht recht glauben kann, welches Talent in ihr steckt.

„Erst grau dann weiß dann blau“, „Der Virtuose“ oder „Kreutzersonate“ heißen die Romane, die in zwanzig Sprachen übersetzt wurden. Und dann ist da „Sturmflut“, das Buch, das sie zwei Tage vor dem großen Tsunami in Asien beendete. Es erzählt von der großen Flut, die im Jahr 1953 im Südwesten der Niederlande fast zweitausend Menschen in den Tod riss.

Im Jahr 2005 ist das Buch erschienen, aber noch heute könnte de Moor stundenlang von Lidy und Armanda erzählen, vom Sturm, der für sie eine „abstrakte Person ist, etwas Großes, Böses“. Sie mag das Buch, sie spricht bis heute gerne darüber – und freut sich deshalb auch, dass für die Aktion „Stuttgart liest ein Buch“ ausgerechnet ihre „Sturmflut“ ausgewählt wurde. Bis zum 26. Mai steht die Stadt im Zeichen dieses spannenden Romans – und die Autorin ist gleich mehrfach zu hören und zu erleben.

Eine besondere Gelegenheit, denn eigentlich macht sich de Moor nicht viel aus öffentlichen Auftritten. Am Anfang, als sie ihre ersten Erfolge feierte, da ließ sie sich noch von Talkshow zu Talkshow herumreichen, da gab sie Interviews und lernte die Schriftstellerkollegen des Landes kennen. Inzwischen hält sie den Trubel lieber fern von sich, zumal es in den Niederlanden keine ernsthafte Auseinandersetzung mit Literatur gäbe. Das mag de Moor an Deutschland, dass hier noch über Bücher debattiert wird. „Man ist ernsthaft, nicht immer so ironisierend, so drollig.“

Das passt zu Margriet de Moor, die selbst ernst und ernsthaft ist. Sie ist ruhig, freundlich, aber immer auch etwas distanziert. Sie ist siebzig Jahre alt, aber man würde sie eher für Ende fünfzig halten. De Moor wirkt zart und zerbrechlich, aber sie weiß genau, was sie will: schreiben.

So verbringt sie oft Wochen in ihrer Wohnung in Amsterdam. Das Schreiben ist ihr eine süße Lust, aber sie tut auch gern nichts. „Ich will nicht immer nur Sinnvolles machen.“ Zur Entspannung setzt sie sich abends ans Klavier. „Die Nachbarn haben nichts gesagt, aber ich habe sie auch nie gefragt.“ De Moor wohnt schön zwischen antiken Möbeln und Kunst, aber so richtig sesshaft ist sie nicht. Sie hat einen eigenwilligen Rhythmus bei sich festgestellt: Nach jedem zweiten Buch zieht sie um. Sie ist in Noordwijk geboren, hat in Den Haag, Amsterdam, Haarlem und Bussum gelebt, jetzt will sie nach Paris ziehen, wo ihr Partner lebt, ein Kritiker und Essayist.

Draußen vor den großen Fenstern peitscht der Wind über die Amstel. Früher war de Moor auf dem Fluss rudern. Früher, in einem ihrer zahlreichen Vorleben. De Moor ist vielseitig begabt, deshalb hat sie Gesang und Klavier studiert, eher zufällig, nicht, weil der Lehrer es ihr vorschlug. Sie begann eine Karriere als Sängerin vor allem für Neue Musik, aber die Begegnung mit dem Publikum empfand sie als unangenehm, sie beneidete andere Künstler um das „Glück des Ateliers und Arbeitszimmers“. Sie hatte Lampenfieber, „aber es ging weiter als das“, erzählt de Moor. Schließlich gab Margriet de Moor die Solistenkarriere als Sängerin auf und wurde Klavierlehrerin.

Es folgten viele Stationen: ein Studium der Kunstgeschichte und Archäologie, die Heirat und zwei Kinder. Ihr inzwischen verstorbener Mann war Bildhauer, sie begann, Künstlervideos zu drehen. Sie war stets umgeben von Künstlern, „deshalb kam ich gar nicht auf die Idee, dass ich selbst etwas machen könnte, ich hatte sehr viel zu tun“. Erst als die Kinder größer wurden, langweilte sie sich plötzlich. „Ich wollte etwas Eigenes.“

Und so begann diese außergewöhnliche Karriere der Margriet de Moor, bei der sie eigentlich nur die Seiten gewechselt hat. Denn die Literatur hat schon immer ihr Leben bestimmt, allerdings über Jahrzehnte nur aus Sicht der Lesenden. Sie hat stets viel gelesen, war umgeben von Büchern. Im Hause der Eltern, einem Lehrerpaar, war die Weltliteratur präsent. Sie waren zehn Kinder, und das Lesen „war die einzige Weise, um privat sein zu können“, erzählt sie. Wer las, musste nicht einmal beim Abwasch helfen, „das wurde akzeptiert“.

Heute findet Margriet de Moor diese Privatsphäre in ihren Büchern. „Ich bin allein mit meinen Figuren.“ So macht de Moor zwar gelegentliche Ausflüge in den Alltag, aber eigentlich lebt sie eher in der Literatur. Aber gibt es überhaupt einen Unterschied zwischen Realität und Literatur? Sie meint: nein. „Der Leser verbindet das wirkliche Leben mit dem, was er gelesen hat.“ Einerlei, ob man reist oder liebt, man nimmt die Eindrücke der Lektüre mit in die Wirklichkeit, meint sie.

Und so schreibt und schreibt Margriet de Moor immer neue Bücher, gerade ist schon wieder eines fertig geworden. Und sie liest und liest, am liebsten dicke Bücher, weil die nicht so bald enden. Denn Bücher, meint Margriet de Moor, zeigen „was wir im Leben nicht haben und was wir in einem einzigen Leben schon aus Zeitmangel nicht alles leben könnten“.