Mit wem könnte man solche Fragen besser besprechen als mit Vertretern der Kulturszene selbst! Als „sachkundige Bürger“ beraten sie im Ausschuss für Kultur und Medien den Stuttgarter Gemeinderat; vierzehn von ihnen haben sich mit unserer Zeitung zur Videokonferenz getroffen. Und wer bei einer solchen Zusammenkunft das große Jammern und Klagen erwartet, der liegt völlig falsch. Selbstbewusstsein bestimmt die Basis dieser Runde – man weiß genau, wie gerade die Kultur seit der Jahrtausendwende zur Imageverbesserung Stuttgarts beigetragen hat.
Kultur als Seelentrost
„Wir erleben eine paradoxe Situation“, sagt Walter Ercolino, der Leiter des Popbüros. „Durch den extremen Mangel, den wir seit einem Jahr in der Stadt erleben, bekommt die Kultur eine ganz neue Wertigkeit. In Zukunft müssen wir niemandem mehr erklären, warum Kultur eine Stadt erst lebendig macht.“ Monika Renninger vom Evangelischen Bildungszentrum Hospitalhof pflichtet ihm bei: „Ich glaube, jetzt steht die Kultur grundsätzlich nicht mehr infrage. Jeder empfindet in der Pandemie, wie sehr sie Ausdruck von Lebensfreude und Lebensmut ist.“ Und fügt als Theologin noch hinzu: „Auch als Seelentrost.“
Viel Lob gibt es für die Kulturverwaltung („reagiert schnell und unkompliziert“) und die Kulturpolitiker fast aller Fraktionen („stark interessiert am Austausch“). Gleichwohl liegen die Probleme auf der Hand – und die größte Frage ist sowieso: Wann und wie wird die Kultur wieder öffnen können? „Wir hoffen auf das Frühjahr und den Sommer“, sagt Ines Pieper, die Geschäftsführerin der Schauspielbühnen. „Wir suchen nach neuen Formaten, entwickeln Opern-Air-Theater. Wir wollen auf die Leute zugehen.“
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Nicht nur eine Frage der Atmosphäre
Die Wiederbelebung der Stadt in den kommenden Wochen ist für alle in der Runde das wichtigste und drängendste Thema. Klaus Jan Philipp, Professor für Architekturgeschichte an der Uni Stuttgart: „Der städtische Raum wird als Folge der Pandemie von vielen Menschen viel bewusster wahrgenommen.“ Kostbar sei er und das gemeinsame Eigentum aller Bürger; die Künstler könnten wirksam helfen, ihn wieder in Besitz zu nehmen. „Wie finden wir viele neue öffentliche Räume für Kultur?“, fragt sich auch Stefanie Stegmann, Chefin des Literaturhauses. „Hier brauchen wir unkomplizierte Unterstützung durch die Verwaltung; da könnte es bei den sicher prinzipiell nötigen Prüfungen und Genehmigungen künftig etwas fixer als bisher zugehen.“
Und wann kommt der klassische Spielbetrieb in den Institutionen wieder in Gang? Ines Pieper meint, „dass wir im Herbst in unseren Häusern wieder ein reguläres Angebot machen können“. Wobei sie hofft, dass bis dahin die Zuschauerreihen wieder etwas dichter besetzt werden dürfen als zuletzt im Frühherbst 2020. „Unser Publikum kam damals schon gern. Aber wenn die Reihen allzu leer bleiben müssen, fühlen sich viele doch etwas beklommen.“ Das sei im Übrigen nicht nur eine Frage der Atmosphäre, sondern auch der Wirtschaftlichkeit, erläutert Mini Schulz, Chef des Jazzklubs Bix: „Wenn ich von unseren 220 Plätzen aus Hygienegründen nur 47 besetzen darf, dann rechnet sich ein Konzert noch nicht mal dann, wenn ich es zweimal am Abend veranstalte.“
Das treue, ältere Publikum geht auf Abstand
Überhaupt das Publikum – wird es am Ende der Pandemie wieder so zahlreich zur Kultur strömen wie zuvor? „Es wird am Tag 1 nicht gleich wieder vor unserer Tür stehen“, meint Kathrin Wegehaupt vom Kommunalen Kontakt-Theater (KKT). „Viele werden abwarten und beobachten, wie sicher die Lage ist. Wie schnell es mit dem Impfen geht und ob die Wirtschaft wieder in Gang kommt, das können wir ja nicht beeinflussen. Aber wenn wir den nötigen Vorlauf haben, stehen wir mit einem Angebot bereit.“
Auch bei der Kulturgemeinschaft e. V., Stuttgarts zentraler Besucherorganisation, ist man besorgt um das Publikum. „Natürlich verlieren wir gerade nicht nur übergangsweise Abonnenten“, berichtet der Vorsitzende Bernhard Löffler. „Und es ist vor allem unser bisher treues, älteres Publikum, das auf Abstand geht.“ Intensiv nutze man deswegen die gegenwärtige Pause, um das Programm neu zu justieren, für Jüngere interessanter zu machen. „Aber dazu braucht es Zeit und Erfahrungen.“ Einige Kulturorte, die insbesondere für junges Publikum interessant sind, stehen derweil ganz auf dem Spiel: „Die Clubs, die Livespielstätten, die kleinen Bühnen – die kämpfen um ihre nackte wirtschaftliche Existenz“, so Popbüro-Chef Ercolino.
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Der künstlerische Substanzverlust schreitet voran
Doch keine Kultur ohne Künstler: Was ist mit all den Freischaffenden, den Kreativen, den Selbstständigen? „Das ist doch der Nährboden, auf dem die Kulturhauptstadt Stuttgart erst wachsen konnte“, betont Elke aus dem Moore, die Direktorin der Akademie Schloss Solitude. Sie begrüßt, dass viele Künstler sich in der Krise stärker kulturpolitisch organisieren, um ihre Forderungen nach Existenzsicherung durchzusetzen. Isabelle Ohst vom Produktionszentrum Tanz und Performance erinnert an den offenen Brief, den freie Theaterkünstler gerade an das Kunstministerium gerichtet haben. „Es geht ganz kurzfristig um persönliche Existenzen. Wir machen Theater, das sich fast immer an ein kleineres Publikum richtet, an 20 bis 30 Personen. Wann wird das endlich wieder möglich sein?“
Monika Renninger sind auch die „Kreativen im Hintergrund“ wichtig, „Techniker, Grafiker, Helfer“, ohne die es kein Leben auf all den Bühnen geben könne. „Ich bewundere alle, die gerade durchhalten, obwohl allzu oft das Geld vom Staat nicht ankommt.“ Mini Schulz registriert einen künstlerischen Substanzverlust schon jetzt: „Etwa ein Viertel der Mitglieder der Deutschen Jazz-Union haben sich seit Beginn des Lockdowns definitiv von ihrem Beruf verabschiedet.“ Und während in den vergangenen Monaten die Profis ja immerhin weiter proben konnten, ist das gemeinsame Proben für den gesamten Amateurbereich seit Monaten verboten. „Wir haben im KKT sechs Theatergruppen. Die werden Monate brauchen, bis sie wieder vor Publikum spielen können“, sagt Kathrin Wegehaupt Noch schlimmer sieht es laut Mini Schulz und Bernhard Löffler im musikalischen Bereich aus: „Nach Corona wird uns beim Amateurnachwuchs eine ganze Generation fehlen. Und in der Chorszene wird sicher auch manches einfach sterben.“
Kunst soll einen Preis haben
Und noch ein Problemfall: der professionelle Künstlernachwuchs. „Die Ausbildung hat stark gelitten in den letzten Monaten“, sagt Bettina Klett von der Medieninitiative der Wirtschaftsförderung. „Und die Perspektiven für Berufseinsteiger sind auf längere Sicht bescheiden.“ Umso hoffnungsvoller stimme sie, wie sehr private Stifter in der Region bereit seien, mit Stipendien finanziell beizuspringen.
Und was ist mit dem Digitalen – hat der Lockdown hier nicht vielen Institutionen mal zur Abwechslung positiven Druck gemacht? „Bei uns im Literaturhaus klappt der Verkauf von Eintrittskarten für das Streaming von Lesungen inzwischen sehr gut“, berichtet Stefanie Stegmann. „Wir erreichen dadurch zum Teil ein ganz neues, zusätzliches Publikum.“ Mini Schulz mahnt indes: „Eines haben wir inzwischen hoffentlich alle gelernt: Es muss endgültig Schluss sein mit den kostenlosen Kulturangeboten im Netz.“ Kunst müsse einen Preis haben und dürfe auch digital niemals an der Qualität sparen. „Alles andere schadet uns.“
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„Die Spardebatte wird kommen“
Apropos Sparen: Wann kommt der große Corona-Kassensturz für die Kulturhauptstadt Stuttgart? „Es werden natürlich finanzielle Belastungen kommen“, sagen die beiden Theaterfrauen Ines Pieper und Kathrin Wegehaupt. „Aber eher mittel- als kurzfristig.“ Deswegen müsse man viel Energie in die Debatte um den kommenden Doppelhaushalt 2022/23 stecken. „Die Spardebatte wird kommen“, schätzt es Mini Schulz ein. „Sie wird bei allen öffentlichen Ausgaben kommen.“ Doch zunächst mal gehe es jetzt darum, den Bestand zu sichern, sagt Walter Ercolino. „Jetzt ist nicht die Zeit für Kürzungen.“ Das ist ganz im Sinn der Kulturmanagerin Petra Bewer: „Der Lockdown verstärkt ja nur die vielen Probleme, die wir seit Jahr und Tag im Kulturausschuss anmahnen: die strukturelle Unterfinanzierung vieler Einrichtungen, die prekären Verhältnisse vieler selbstständiger Künstler, der Situation der Geringverdiener in manchen Kultureinrichtungen. Das gehört jetzt auf die Tagesordnung.“ Und das schönste Ziel überhaupt wäre, „die Kultur als Pflichtaufgabe im Haushalt der Stadt Stuttgart“.
Ein selbstbewusstes Kulturfestival im Blick
Klar, Fernziele sind wichtig. Auch der Uniprofessor Klaus Jan Philipp hat noch eines parat: „Die Internationale Bauausstellung wird ja nicht nur eine Architekturschau. Das muss ein großes, selbstbewusstes Kulturfestival weit über die Stadtgrenzen hinaus werden.“ Deutsche Kulturhauptstadt 2027: Region Stuttgart. Da hört man es doch prompt irgendwo im Videohintergrund murmeln: „Bis dahin sind wir ja wohl auch in Baden-Württemberg mit dem Impfen durch.“
Kulturschaffende und Kulturranking
Die Teilnehmer der Videokonferenz
An unserer Videokonferenz haben folgende sachkundigen Bürger im Kulturausschuss teilgenommen: Petra Bewer (Antiquarin und Kulturmanagerin), Ines de Castro (Direktorin des Lindenmuseums), Walter Ercolino (Leiter Popbüro Region Stuttgart), Bettina Klett (Medieninitiative der Wirtschaftsförderung Region Stuttgart), Bernhard Löffler (Vorsitzender der Kulturgemeinschaft Stuttgart e. V.), Elke aus dem Moore (Akademie Schloss Solitude), Isabell Ohst (Produktionszentrum Tanz und Performance), Klaus Jan Philipp (Leiter des Institut für Architekturgeschichte an der Uni Stuttgart), Ines Pieper (Geschäftsführerin Schauspielbühnen Stuttgart), Monika Renninger (Leiterin des Evangelischen Bildungszentrums Hospitalhof), Mini Schulz (Professor an der Hochschule für Musik und Geschäftsführer des Jazzklubs Bix), Stefanie Stegmann (Literaturhaus Stuttgart), Elke Uhl (Internationales Zentrum für Kultur- und Technikforschung an der Uni Stuttgart) und Kathrin Wegehaupt (Leiterin des Kommunalen Kontakt-Theaters).
Die Kulturhauptstadt
Alle zwei Jahre erstellt das renommierte Hamburger Weltwirtschaftsinstitut (HWWI), seit 2012 im Auftrag der Berenberg-Bank, ein Kulturranking der deutschen Großstädte. Untersucht werden dabei das quantitative Kulturangebot, die tatsächliche Nutzung der Kulturangebote durch die Bevölkerung sowie die Größe der Kreativwirtschaft und ihr Anteil an der Gesamtwirtschaftsleistung der Stadt. Beim bisher letzten HWWI-Kulturranking 2018 erreichte Stuttgart nicht nur insgesamt, sondern auch in allen drei Teilbereichen den ersten Platz. Im Coronajahr 2020 setzte die Untersuchung aus.