Eine 21-jährige Kreisrätin in Calw Zu jung für die Politik?
Nele Willfurth fehlten Wahlfächer an ihrem Dorfgymnasium, also trat sie mit 16 in eine Partei ein. Heute ist sie Kreisrätin in Calw – mit gut 30 Jahren Altersabstand zu ihren Kollegen.
Nele Willfurth fehlten Wahlfächer an ihrem Dorfgymnasium, also trat sie mit 16 in eine Partei ein. Heute ist sie Kreisrätin in Calw – mit gut 30 Jahren Altersabstand zu ihren Kollegen.
Der große Sitzungssaal im Calwer Landratsamt ist voll besetzt. Vier Tischreihen à zwölf Köpfe mit ergrauten Haaren, viele Halbglatzen, Sakkos über der Stuhllehne. Vom Podium vorne im Saal blickt der Landrat Helmut Riegger, 61, in die Runde, rechts vor dem großen Fenster sitzen die Damen und Herren der Verwaltung, bereit, Rechenschaft abzulegen.
Die Kreistagssitzung läuft so ab: 90 Minuten lang kann man tiefen Männerstimmen beim Diskutieren zuhören, zum Beispiel über bezahlbaren Wohnraum. Oder über die Wiederinbetriebnahme eines Schlachthofes. Dann ertönt eine leise, helle Stimme. Eine junge Frau umfasst mit beiden Händen ihren Notizblock mit den Stichpunkten, so als ob sie sich daran festhalten möchte. Sie kommt zwei Sätze weit. „Wir brauchen ein Umdenken in unserem Fleischkonsum hin zu weniger, dafür quali. . .“ Ein Mann lacht laut auf, schnaubt verächtlich, schüttelt den Kopf. Die junge Frau ist Nele Willfurth, 21, Studentin. Der Schnauber ist 70 und besitzt eine Praxis für Allgemeinmedizin.
Der Kreistag Calw besteht aus 40 Männern und acht Frauen, Altersdurchschnitt: 59 Jahre. Die größte Fraktion ist die CDU, gefolgt von der Freien Wählervereinigung, der SPD, den Grünen, der AFD und FDP. Seine Mitglieder sind Ärzte, Landwirte und Bürgermeister. Und seit 2019 ist da Nele Willfurth. Sie sagt, es komme bei allen Kreistagsmitgliedern vor, dass mal jemand lacht oder einen Kommentar dazwischenruft. In dieser Sitzung passiert es nur bei ihr.
Rückblick: Wieder der große Sitzungssaal im Calwer Landratsamt, Herbst 2019. Es ist Nele Willfurths zweite Kreistagssitzung, aber die erste, in der sie sich zu Wort meldet. Stellvertretend für die Grünen-Fraktion reicht sie einen Antrag ein: Ratsmitglieder sollen künftig wählen dürfen, ob sie mit dem Zug oder dem Flugzeug zu politischen Veranstaltungen reisen.
Und der Saal? Applaudiert. Sogar die CDUler. Nele Willfurth wird das nicht vergessen: Der Antrag sei „basic“ gewesen, sagt sie, den Applaus habe sie also nur für ihr Alter bekommen. Heute passiere das nicht mehr. Darüber ist Nele Willfurth froh, sie will nicht bevorzugt behandelt werden.
Das 2000-Einwohner-Dorf Egenhausen, in dem Nele Willfurth aufwuchs, liegt auf einer Anhöhe im Norden des Schwarzwaldes, umgeben von grasgrünen Hügeln, Streuobstwiesen und Wäldern.
An diesem Tag spaziert Nele Willfurth durch die Sonne, vorbei an der Kirche, in die sie sonntags mit ihren Eltern zum Gottesdienst ging, über den Schulhof der Grundschule, den kleinen Hügel hinauf, den sie bei Schnee mit dem Schlitten hinuntersauste, bis zum Familiengrundstück mit dem alten Apfelbaum. Vögel zwitschern, die Kirchenglocke schlägt Mittag, sonst ist es ruhig.
Ohne Sorgen auf der Straße spielen zu können, den Apfelsaft aus den eigens angebauten Äpfeln zu trinken, jedes Kind im Dorf zu kennen – in ihrer Kindheit empfand Nele Willfurth das als die große Freiheit.
Für die 14-jährige Nele wird die Idylle jedoch zum Gefängnis. Der Bus, der sie alle zwei Stunden aus Egenhausen, aber auch nicht weiter wie bis in die nächste Kleinstadt Nagold bringt, wird zur Fußfessel. Sie wünscht sich neue Erfahrungen, neue Orte, neue Menschen. Nele will nach Berlin. Aber dafür ist sie noch viel zu jung.
Die 16-jährige Nele möchte in der Oberstufe ihre Hauptfächer wählen. Geografie würde sie interessieren, Gemeinschaftskunde oder Religion. Alle drei Fächer werden nicht angeboten. Die Schule ist zu klein, es mangelt an Lehrkräften. Nele fragt sich: Nur weil sie auf dem Land aufwächst und ein kleines Gymnasium besucht, soll sie nicht die Wahl haben?
Fehlender ÖPNV, wenig Kulturangebote und kaum Perspektiven für junge Leute. Das Stadt-Land-Gefälle lässt sie nicht mehr los. Nur eines ändert sich mit der Zeit: Statt den Fluchtimpuls in die Großstadt wie zu Beginn ihrer Teenagerjahre weckt die Ungleichheit ihren Tatendrang.
2017 tritt sie bei den Grünen ein. Auf ihrer ersten Parteiveranstaltung gibt es Schweineschnitzel. So ist das eben auf dem Land. 2019 kandidiert sie auf Listenplatz sechs von sieben bei der Kreistagswahl.
Tag der Entscheidung, Mai 2019. Nele Willfurth, seit wenigen Tagen volljährig, steht im Calwer Landratsamt, den Blick auf den Bildschirm gerichtet, über den in Dauerschleife die Wahlergebnisse laufen. Hinter ihrem Namen steht ein „g“. Sie kneift die Augen zusammen, muss ein zweites Mal hinsehen. Dann greift sie zum Handy, ruft ihre Eltern an. Ihr Vater sagt, er glaubt es erst, wenn es in der Zeitung steht.
Am nächsten Tag steht im „Schwarzwälder Boten“, die Grünen hätten ihre Mandate von bisher fünf auf sieben gesteigert. „Eines davon ging an die jüngste Calwer Kreisrätin: die 18-jährige Nele Willfurth.“
Der Anfang ist schwer. Vor Ausschüssen und Sitzungen ist Nele Willfurth nervös, manche Kollegen haben Jahrzehnte Lokalpolitik hinter sich. Die ersten Monate muss sie sich Mut zureden: „Die Menschen haben dich gewählt. Es ist dein Recht, hier zu sein, mitzureden, deine Meinung zu vertreten.“
Gut drei Jahre später, Kreistagssitzung in Calw. Nele Willfurth setzt zu ihrem zweiten Wortbeitrag an. Das Notizbuch mit den Stichpunkten liegt noch immer vor ihr, aber diesmal redet sie frei, ihr Blick ist nach vorne gerichtet, die Hände gestikulieren. Es geht um den spärlichen öffentlichen Nahverkehr in der Region. Nele Willfurth weiß, wovon sie spricht. Diesmal hören die Kreisräte zu. Nach fünf Stunden Sitzung fährt sie eine gute Stunde mit dem Zug nach Karlsruhe. Dort studiert sie seit Februar im Master: Mobilitätsmanagement.
Ihre Woche teilt sich in Politik und Uni. Nele Willfurth steht früh morgens auf. Von sieben bis neun Uhr liest sie Sitzungsvorlagen, schreibt Anträge oder telefoniert mit Fraktionskollegen. Ab zehn Uhr dann Vorlesung, Mittagessen mit den Kommilitonen, nachmittags kommt sie nach Hause – kurze Pause. An den Abenden und Wochenenden steht Politik auf dem Programm.
Eine beliebige Woche sieht heute so aus: Montag: Fraktionssitzung in Pforzheim. Dienstag: Sitzung des Vorstands der Grünen Jugend Baden-Württemberg, in den Nele vor einem Jahr gewählt wurde. Freitag: Planungstreffen zu den Kommunalwahlen 2024. Samstag: Landesvorstandssitzung der Grünen Jugend in Stuttgart.
Nele Willfurth ist stets vorbereitet. In den Fraktionssitzungen gehört sie zu denjenigen, die Unterlagen genau gelesen haben und deshalb Fragen beantworten können. Johannes Schwarz, der Fraktionsvorsitzende der Grünen im Kreis Calw, sagt: „Nele ist der Beweis, dass die Änderung des Kommunalwahlrechts funktioniert.“ Es komme nicht auf das Alter an, sondern auf die Motivation. Am 29. März stimmte der baden-württembergische Landtag für eine Änderung des Wahlrechts: Ab 2024 dürfen 16-Jährige in kommunale Gremien – also Gemeinde-, Stadt- oder Kreisräte – und 18-Jährige ins Bürgermeisteramt gewählt werden. Diese Regelung ist bisher einmalig in Deutschland.
Zwischen Studium, Kreistag und dem Vorstand der Grünen Jugend bleibt Nele Willfurth wenig Platz für Freizeit und Freunde. Es sind eine Handvoll enge Freundinnen, die ihr Rückgrat bilden. Sie benutzt selten das Wort „Ich“. Stattdessen sagt sie Dinge wie „Man fragt sich schon manchmal, wieso man das alles macht“, „Man hat Angst davor, falsche Prioritäten zu setzen“ oder „Man genügt nicht seinen eigenen Ansprüchen“.
Sie versucht sich bewusst nicht über ihre politische Arbeit zu definieren, sondern ihren Selbstwert außerhalb der Politik zu erhalten. Der Glaube gibt ihr dabei Sicherheit: „Durch ihn weiß ich, ich bin gut, wie ich bin.“ Und es sind Erfolge, die sie motivieren. Zum Beispiel, dass alle Menschen im Landkreis Calw für ein Jahr am Wochenende kostenlos Bus fahren konnten. Neles Willfurths Fraktion hat das ermöglicht, darauf ist sie stolz.
Viele Menschen aus Nele Willfurths Generation sind in der Klimabewegung aktiv. Wenn sie sich über die kleinen Fortschritte in der Kommunalpolitik freue, seien diese Menschen oft verwundert. „Aktivistinnen wollen gleich die ganze Welt retten“, sagt Nele Willfurth. „Die sind laut. Was gut ist für die Aufmerksamkeit.“ Trotzdem findet sie, man müsse an mehreren Schrauben drehen. Sie, die lieber Zwischenziele anstrebt, statt groß zu träumen, ist überzeugt, dass jeder Schritt in die richtige Richtung hilft.
Bei den Kommunalwahlen im nächsten Jahr will Nele Willfurth wieder kandidieren. Manchmal denkt sie auch an die große Politikbühne. 2021 war sie Zweitkandidatin bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg. Dann zweifelt sie wieder, glaubt, vielleicht außerhalb des politischen Alltags mehr bewirken zu können. In ihrem Abi-Jahrbuch jedenfalls wählten ihre Mitschüler sie bei der Frage „Wer wird Bundeskanzler?“ auf den ersten Platz.