Eine ehrenamtliche Bewährungshelferin Freiheit auf Probe
Sophia Lamparter ist ehrenamtliche Bewährungshelferin. Sie begleitet Straftäter zurück in die Gesellschaft. Eine Gratwanderung zwischen Vertrauen und Kontrolle.
Sophia Lamparter ist ehrenamtliche Bewährungshelferin. Sie begleitet Straftäter zurück in die Gesellschaft. Eine Gratwanderung zwischen Vertrauen und Kontrolle.
In Mantel und Daunenjacke gehüllt spazieren zwei junge Frauen am Stuttgarter Neckarufer entlang und sprechen über die Zukunft. Sie sind fast gleich groß und in einem ähnlichen Alter – man könnte sie für Freundinnen halten. In Wahrheit unterscheidet sie vieles: Die eine hat mit Drogen gedealt und saß fast zwei Jahre hinter Gittern. Die andere soll ihr helfen, nicht wieder dort zu landen. Die andere, das ist Sophia Lamparter, ehrenamtliche Bewährungshelferin.
An diesem Wintertag hat sie sich in der Mittagspause mit ihrer Klientin Amira (Name geändert) verabredet. Amira ist seit eineinhalb Jahren aus dem Gefängnis raus. Doch die Folgen ihrer Tat werden sie noch lange begleiten. „Wenn sie einmal eine Familie gründet, Kinder hat, das überschattet alles“, sagt Sophia Lamparter.
Amiras Problem nennt sich „Wertersatz“. Das Gericht hat sie nicht nur zu einer Freiheitsstrafe verurteilt, sondern fordert von ihr auch das Geld, das sie durch den Verkauf von mehreren Kilos Marihuana eingestrichen hat. Mehr als 100 000 Euro. Was sie selbst für den Kauf der Drogen ausgegeben hat, spielt keine Rolle. „Ich hab für das Zeug ja Geld bezahlt, aber die wollen alles von mir“, klagt Amira und klingt wie eine Betrogene.
Oft ähnelt Sophia Lamparters Job dem einer Lebensberaterin. Sie hilft bei Behördengängen, bei der Job- und Wohnungssuche, durchforstet die Schuldenberge ihrer Klienten oder erklärt, was der Brief vom Amt zu bedeuten hat. Kurz: Sie tut alles, damit die Resozialisierung gelingt. Denn kaum etwas ist schlimmer als Perspektivlosigkeit.
In keinem anderen Bundesland engagieren sich so viele Ehrenamtliche in der Bewährungshilfe wie in Baden-Württemberg, aktuell sind es rund 600 Männer und Frauen. Sie übernehmen Fälle, in denen es nicht um schwere Verbrechen wie Mord oder Vergewaltigung geht und bei denen vor allem lebenspraktischer Rat gefragt ist. Sie tragen für ihre Fälle die volle Verantwortung, haben aber einen hauptamtlichen Teamleiter als Ansprechpartner. Das Konzept ist in dieser Form einzigartig in Deutschland.
Sophia Lamparter ist seit 2018 dabei. In ihrer Freizeit trifft sie sich mit Betrügern, Dieben, Schlägern, Junkies. Tatsächlich hat sie es überwiegend mit Männern zu tun. Meist haben sie einen Teil ihrer Strafe hinter Gittern verbüßt. Das Gericht entlässt sie mit einem Packen an Auflagen und Weisungen. Oft müssen sie Geldbußen zahlen, ein Antiaggressionstraining absolvieren oder gemeinnützige Arbeit leisten – Bäume schneiden etwa oder die Straße kehren.
Sophia Lamparter kontrolliert, ob ihre Klienten auch alle Anordnungen erfüllen. Verstöße muss sie melden. Zum Beispiel, wenn sie mitbekommt, dass der verurteilte Junkie weiterhin Drogen nimmt. Sie muss dann in die Rolle der Aufpasserin schlüpfen, ihre strenge Seite zeigen. „Das ist die größte Herausforderung“, sagt sie. „Den Klienten klarzumachen: Ich kontrolliere dich, aber ich will dir auch helfen.“
Die Arbeit der Bewährungshelfer fußt auf einer guten Beziehung. Sie können wenig tun, wenn sich ihre Schützlinge querstellen, Therapiestunden schwänzen, Termine platzen lassen oder – was ständig vorkommt – plötzlich nicht mehr unter ihrer Handynummer erreichbar sind. Ihr schärfstes Schwert ist ein Bericht an das Gericht. Der kann zu einer Anhörung und im schlimmsten Fall zum Widerruf der Bewährung führen. Dann landet der Klient genau dort, wo er eigentlich nicht mehr hin sollte: im Gefängnis.
Auf ihrem Spaziergang haben die Frauen den Wasen erreicht, auf dem sich zweimal im Jahr die Volksfest-Karussells drehen. Jetzt aber wirkt das asphaltierte Festgelände so trostlos wie die Aussichten der jungen Frau. „Kommst du zurecht?“, will Sophia Lamparter wissen. Sie möchte nicht, dass Amiras Bemühungen an Geldsorgen scheitern. Eine Privatinsolvenz ist bei Schulden, die von einer Straftat herrühren, nicht möglich. Der „Wertersatz“ macht der jungen Frau zu schaffen, auch wenn sie sich lässig gibt und scherzt: „Bald hab ich gar nichts mehr, die nehmen mir sogar meine Unterhose weg.“
Ihre Schulden stottert sie derzeit mit zehn Euro im Monat ab. Eine Lebensaufgabe. „Du verdienst Geld, die nehmen es dir wieder weg“, sagt Amira, die im Moment eine Umschulung macht. Alle sechs Monate muss sie ihre Kontoauszüge vorlegen, damit die Rate entsprechend angepasst werden kann. „Das geht wirklich voll auf die Psyche. Sag du mir, warum soll ich arbeiten gehen?“
Die beiden Frauen duzen sich, was Sophia Lamparter eigentlich vermeidet. Das Du hat sich einfach eingeschlichen. Vielleicht, weil Lamparter zum ersten Mal eine Frau betreut und sie beide nur wenige Jahre trennen. Vielleicht aber auch, weil sie sich ein Stück weit in der anderen spiegelt. So kann eine Biografie verlaufen, wenn man im Leben ein paar falsche Abzweigungen erwischt. Eine ehrenamtliche Bewährungshelferin aus Lamparters Team drückt es so aus: „Jeder von uns kann straffällig werden. Sie können da draußen jemanden umfahren und wumms, hat man eine Straftat begangen.“
Etwas besorgt blickt Sophia Lamparter auf den Sommer. Dann nämlich kommt Amiras Freund aus dem Gefängnis. Die beiden wurden zusammen mit den Drogen erwischt. Seine Entlassung kann ein kritischer Punkt werden: „Entweder sie puscht ihn – oder beide machen gar nichts mehr.“
Sophia Lamparter ist 30 Jahre alt, ihre langen Haare sind blond gesträhnt, die Augen mit viel Tusche und dunklem Kajal betont. Sie liest gern True-Crime-Storys und hat lange von einer Karriere als Anwältin für Strafrecht geträumt. Doch für das Jurastudium hatte sie den falschen Schulabschluss und in ihrer Ausbildung als Rechtsanwalts-Fachangestellte verlor sie schnell die Illusion. „Im Fernsehen setzt sich der Anwalt total ein, geht raus, recherchiert und ermittelt selbst für seine Mandanten.“ Nun erlebte sie, dass man als Anwalt seine Mandanten mitunter kaum persönlich trifft und die Hilfe mit dem Urteil endet. „Das war mir zu wenig.“
Während ihrer Zeit in der Kanzlei suchte sie nach einem Ehrenamt. Auf einer Webseite der Caritas fiel ihr unter den Vorschlägen die ehrenamtliche Bewährungshilfe ins Auge. Das wollte sie machen. „Von dieser Arbeit bekommt man im Alltag gar nichts mit.“ Bewährungshilfe findet oft unter dem Radar der Bevölkerung statt. Das Ehrenamt wurde auch geschaffen, um Brücken zu bauen und das Bild vom bösen Verbrecher zu ändern.
Erzählt sie anderen von ihrem Ehrenamt, hört sie oft: „Ich könnte das nicht.“ Oder, dass sie immer nur den Tätern helfe. Sophia Lamparter unterschätzt das Leid der Opfer nicht. Ein Grundsatz der Bewährungshilfe lautet, die Straftat zu verurteilen, nicht den Menschen. Ihre Eltern fragten: „Hast du keine Angst, mit denen allein zu sein?“ Sophia Lamparter fürchtet sich nicht. Kann sie jemanden schwer einschätzen, verlegt sie die Treffen in die Räume der Bewährungshilfe.
Wo würde sie eine Grenze ziehen? Sie überlegt kurz. „Bei Menschen, die Kinder vergewaltigt haben, würde ich mich sehr schwer tun“, sagt sie dann. „Aber ich würde es trotzdem machen, weil jeder Mensch, egal was er getan hat, ein Recht auf Hilfe hat.“
Mittlerweile arbeitet Sophia Lamparter als Sachbearbeiterin in der Stadtkämmerei, Bereich Vollstreckung. Ein Job, bei dem man Menschen oft schmerzhaft auf die Füße tritt. Wer ein Bußgeld oder eine Steuer trotz Mahnung nicht bezahlt, bekommt Post von ihr. Sie kann Ratenzahlungen zulassen, das Ersparte auf dem Konto oder den Lohn pfänden oder gleich einen Gerichtsvollzieher vorbeischicken. Dabei hat sie nur einen begrenzten Spielraum, den sie aber zu nutzen versucht. Die Erfahrungen aus ihrem Ehrenamt haben sie geprägt. Sie versucht, den Schuldnern, mit denen sie in ihrem Job zu tun hat, das gleiche Verständnis entgegenzubringen wie ihren Klienten im Ehrenamt. „Menschen sind ja mehr als Akten“, sagt sie. „Wenn ich höre, dass jemand in schwierigen Verhältnissen lebt, obdachlos oder im Gefängnis war, versuche ich, mit ihm Lösungen zu finden.“
Am liebsten würde Sophia Lamparter sich Vollzeit um Menschen auf Bewährung kümmern. Doch die Hürden sind hoch. Für den Job als hauptamtliche Bewährungshelferin müsste sie ihr Fachabitur machen und studieren. Keine leichte Entscheidung, wenn man bereits mitten im Berufsleben steht.
Sich bewähren heißt, ein Leben ohne Straftaten zu führen. Immer. Die Herausforderungen enden nicht nach der Bewährungszeit. Resozialisierung ist auch eine Gesellschaftsaufgabe. Wenn Arbeitgeber Ex-Häftlingen einen Job anbieten, Vermieter trotz schlechter Schufa-Auskunft eine Wohnung bereitstellen, ebnet das den Weg. Die ehrenamtlichen Bewährungshelfer haben eine Vermittlerrolle. Sie machen ihr Umfeld offener, wecken Verständnis für verkorkste Laufbahnen. So zumindest die Hoffnung.