Elektrokonzern Siemens will in Tübingen mehr als die Hälfte der Jobs streichen

Die Belegschaft steht unter Schock. Siemens will in Tübingen mehr als die Hälfte der Jobs streichen. Dabei hatte der Betriebsrat nach eigenen Angaben längst Vorschläge zur Verbesserung der Lage gemacht.
Tübingen - Der Elektrokonzern Siemens will an seinem Standort in Tübingen mehr als die Hälfte der Arbeitsplätze streichen. Die Montage von Motoren soll komplett nach Tschechien verlagert, ein Teilbereich an Zulieferer gegeben werden. Das Getriebemotorengeschäft schreibe seit längerem deutliche Verluste, hieß es vom Konzern am Donnerstag zur Begründung. Der Bereich habe mit Größennachteilen gegenüber Wettbewerbern wie etwa SEW Eurodrive in Bruchsal zu kämpfen. Die Zahl der Mitarbeiter soll deshalb bis Frühjahr 2020 von derzeit 580 auf 250 reduziert werden.
Die Belegschaft war am Donnerstag informiert worden. Die Mitarbeiter reagierten nach Gewerkschaftsangaben schockiert. Bei der Mitarbeiterversammlung hätten einige Tränen in den Augen gehabt, spontan hätten sie sich zu einer Kundgebung vor dem Werk versammelt.
IG Metall macht sich Sorgen um den Standort Tübingen
Die erste Bevollmächtigte der IG Metall Reutlingen-Tübingen, Tanja Grzesch, reagierte mit Unverständnis auf die Ankündigung. Betriebsräte und Gewerkschaft hätten in der Vergangenheit immer wieder auf erhebliches Verbesserungspotenzial für den Bereich hingewiesen und sich gesprächsbereit gezeigt. Obwohl der Konzern betonte, der Standort werde nicht geschlossen, macht sich Grzesch Sorgen um die Zukunft des Werks in Tübingen.
Die Sparte, die derzeit leistungsstarke Motoren für die Rohstoffindustrie und Fabrikautomatisierung herstellt, soll sich stärker auf die Fördertechnik ausrichten, die in der Autoindustrie und im Maschinenbau zu Einsatz kommt. Das traditionsreiche Werk war erst 2005 von Siemens übernommen worden. Das Getriebemotorengeschäft gehört eigentlich zur zukunftsträchtigen Sparte Digitale Fabrik von Siemens, kämpft aber bereits seit Jahren mit roten Zahlen. Der Wettbewerbs- und Preisdruck habe sich in den vergangenen Jahren deutlich verschärft, hieß es vom Unternehmen.
Zuletzt strich Siemens rund 1700 Stellen
Der Betriebsrat will den Stellenabbau allerdings nicht kampflos schlucken. Der Betriebsratsvorsitzende Ismayil Arslan will versuchen, den Verlust von Arbeitsplätzen in den Verhandlungen abzumildern. Siemens will nach eigenen Angaben einen Interessensausgleich und Sozialplan verhandeln. Möglichkeiten seien Altersteilzeit-Regelungen, Versetzungen innerhalb des Konzerns, aber auch freiwillige Aufhebungsverträge und Weiterbildung. Die Verhandlungen sollen zeitnah beginnen.
Unter Führung von Konzernchef Joe Kaeser hat Siemens in den vergangenen Jahren einen radikalen Wandel durchlaufen, bei dem auch Tausende Jobs wegfielen. Kaeser hatte den Umbau zwar für abgeschlossen erklärt, zugleich aber deutlich gemacht, dass das Unternehmen reagieren müsse, wenn es in einzelnen Geschäften Handlungsbedarf gebe.
Zuletzt strich Siemens in der Sparte Prozessindustrie und Antriebe an mehreren deutschen Standorten - vor allem in Bayern - rund 1700 Stellen. Diese baut etwa Getriebe, Motoren, Antriebe und Kupplungen für die Öl-, Gas- und Bergbauindustrie. Die Einschnitte hatte Siemens vor allem mit der Nachfrageflaute in der Öl- und Gasbranche begründet. Der Konzern beschäftigt in Deutschland insgesamt 113 000 Mitarbeiter, davon gut 10 000 in Baden-Württemberg, unter anderem in Stuttgart, Karlsruhe oder Mannheim.
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