Energie-Experte Jürgen Görres Dieser Mann macht Stuttgart klimaneutral

Auf dem Santiago-de-Chile-Platz in Stuttgart-Degerloch liegt einem die Stadt zu Füßen. Jürgen Görres sieht hier allerdings nicht nur eine atemberaubende Kessellage. Foto: Lichtgut/Max Kovalenko

Jürgen Görres wirkt verblüffend entspannt. Dabei liegt auf seinem Schreibtisch eine Jahrhundertaufgabe: Stuttgart zur Klimaneutralität zu verhelfen. Was hat er geplant?

Klima & Nachhaltigkeit: Judith A. Sägesser (ana)

Wer würde ernsthaft mit Jürgen Görres tauschen wollen? Stuttgart soll bis 2035 klimaneutral sein, also nahezu null CO2-Emissionen ausstoßen, dieser Plan gilt für alle und jeden. Ob er aufgeht, entscheidet sich auch auf dem Schreibtisch von Jürgen Görres, dem Leiter der Energieabteilung der Stadt Stuttgart. Die Aufgabe könnte kaum herausfordernder sein. Als der Gemeinderat im verstrichenen Sommer das Ziel von 2050 auf 2035 korrigiert hat, haben die 50 Mitarbeiter in seiner Abteilung jedoch nicht gestöhnt, sondern gefeiert. Görres und seine Kolleginnen und Kollegen wollen sich der Herausforderung nämlich nicht erst seit gestern stellen. Viel zu lange sei es ein Kampf gegen Windmühlen gewesen, sagt er.

 

Eine atemraubende To-do-Liste

Um zu erklären, worum es geht, was zu tun ist und was Stuttgart zu einem Sonderling in der Energiewende macht, will Jürgen Görres durch die Stadt laufen, besser gesagt die Stadt hinunter. Startpunkt ist der Bopser, doch leider ist der Ausblick auf die Stadt von hier nicht wie erhofft. „Ich kenne die schönen Plätze nicht“, murmelt er. Das liege daran, dass er kaum rauskomme aus Büros und Besprechungszimmern. Heute schon, es geht mit der Stadtbahn eine Etappe höher, auf den Haigst zum Santiago-de-Chile-Platz. Hier liegt einem die Stadt zu Füßen. Jürgen Görres sieht allerdings nicht nur eine atemberaubende Kessellage, sondern auch eine atemraubende To-do-Liste. „Sie sind nicht blind, Sie sehen rote Dächer.“ Er meint: kaum Fotovoltaik. Ginge es nach ihm, müsste ausnahmslos auf jedem Dach Sonnenenergie geerntet werden.

Der Mann, der Stuttgart bis in zwölf Jahren zur Klimaneutralität verhelfen soll, beschreibt sich selbst als genügsam. Er ist zu viert auf 80 Quadratmeter aufgewachsen, die fünf Kilometer zum Gymnasium hat er mit dem Drei-Gang-Fahrrad zurückgelegt, hinten auf dem Schutzblech ein Energiespar-Aufkleber. „Wir waren mit den Dingen, die wir hatten, zufrieden.“ Und darauf wird es seiner Meinung nach ankommen. Dass derzeit die Heizungen in den Amtsstuben leicht heruntergedreht sind – „Sie glauben nicht, was wir gerade für Diskussionen deshalb führen, da zieht es mir die Schuhe aus.“ Dieses Anspruchsdenken: Ich will, ich will, ich will. „Da gab es früher einen blöden Spruch: Der Willi ist heute zu Hause geblieben.“ Görres lacht, aber er meint es ernst.

Weil er seine beiden SUVs verschweigen will?

Er und seine Frau haben ein Auto, weil sie auf dem Dorf wohnen, aber er pendelt seit fast 25 Jahren mit den Öffentlichen zur Arbeit, er fliegt nicht mehr und kauft nur das Nötigste. „Die Coronazeit hat mich nur Socken gekostet.“ Freunde und Bekannte würden bestimmt unterschreiben, dass er und seine Frau Ökos sind, sagt er. Wie er privat lebt, will er trotzdem lieber nur erzählen und nicht zeigen. Etwa, weil er vielleicht doch noch zwei SUVs verschweigen will? Er lacht. Mit seiner Frau hat er die Verabredung: Arbeit ist Arbeit, privat ist privat.

Stattdessen geht es jetzt die Weinsteige hinab, vorbei an Prachtbauten, in die man sich sofort verlieben kann. Jürgen Görres hält an und zeigt auf eine fast komplett verglaste Fassade am Hang. „Klar, der will von jedem Punkt in seinem Haus aus dem Fenster gucken können“, sagt er. Aber energetisch sei das eine Katastrophe. Optik dürfe nicht mehr vor Energiekonzept gehen. „Wenn es die Architekten nur auch mal aufnehmen würden“, sagt Görres. Sie müssten diese Themen von Anfang an mitdenken, sagt er. Solarmodule gebe es inzwischen auch in Rottönen. „Man kann das sehr schön machen.“

Das Dreifache sanieren im Vergleich zu heute

Aber auch im Bestand ist genug zu tun. Rund 200 000 der insgesamt 317 694 Wohneinheiten in Stuttgart müssen saniert werden. Wie schafft es Jürgen Görres, angesichts dieser Mammutaufgabe so tiefenentspannt von Degerloch zum Marienplatz zu spazieren? „Das wird gut gehen“, sagt er. Wenn alle an einem Strang ziehen, könne man es schaffen. „Die Prozesse sind angestoßen.“ Er geht davon aus, dass man bis 2030 in der Lage sein werden, das Dreifache zu sanieren im Vergleich zu heute. „Ich glaube, das Thema Klimaschutz haben jetzt die meisten verstanden.“ Vor Jahrzehnten sei er gegen Wände gerannt. „Heute ist man kein Einzelkämpfer mehr“, sagt er. Erfreut habe er gelesen, was der neue EnBW-Chef Andreas Schell unserer Zeitung über seine Motivation gesagt hat: „Wir werden uns alle die Frage stellen lassen müssen: Warum habt Ihr euch nicht anders entschieden, als ihr euch noch entscheiden konntet?“

Trotzdem ist das meiste von dem, was die Landeshauptstadt verwandeln soll, bisher nur ein Plan, die Umsetzung fehlt. Görres spricht von Stuttgarter Eigenarten, sie sind sowohl historisch als auch geografisch bedingt. Mit den vierspurigen Stadtautobahnen zum Beispiel habe man Pflöcke eingeschlagen. Aber auch die Kessellage macht den Weg zur Klimaneutralität für Stuttgart schwerer als für andere Städte, sagt Görres. Zwischen der Innenstadt und der Filderebene liegen rund 200 Höhenmeter. Für die Wärmewende brauche es daher verschiedene Strategien. Teile der Innenstadt seien prädestiniert für ein Fernwärmenetz, die Hanglage wiederum müsse eher auf Wärmepumpen setzen.

Zeit, Verantwortung zu übernehmen

Auf dem Marienplatz ist Markt, es riecht nach Fisch. Jürgen Görres hat noch ein Stündchen Zeit für einen Cappuccino. Er ist am 20. November 60 Jahre alt geworden, und er liebäugelt damit, 2029 in den Ruhestand zu gehen. Wurmt es ihn nicht, dass er zum Schluss nur noch zuschauen kann, ob Stuttgart die Wende hin zur Klimaneutralität gelingt? Ein klein wenig schon. Aber er werde die Entwicklungen natürlich trotzdem genau verfolgen, sagt er. „Mein Anspruch ist, dass ich, wenn ich 2029 gehe, weiß, dass es klappt.“ Und wenn es nicht klappt? „Ich sage Ihnen, warum ich versuche, entspannt zu bleiben.“ Bringe doch nichts, wenn er jetzt die Nerven verliere. „Es ist die Zeit, Verantwortung zu übernehmen.“ Er meint damit nicht nur sich selbst, sondern alle.

Die Energiewende in Stuttgart

Ziele
Das Ziel der Stadt Stuttgart ist es, bis 2035 die Klimaneutralität zu erreichen, das ist 15 Jahre früher als zunächst geplant. Die Emissionen der Treibhausgase sollen um 95 Prozent (gegenüber 1990) reduziert werden. Das Zwischenziel sind 80 Prozent Reduktion bis 2030. Ihren Beitrag leisten müssen verschiedene Sektoren: die Verwaltung, die Haushalte, Gewerbe und Industrie und Verkehr.

Energiewende
Die Energiewende besteht aus drei verschiedenen Ebenen, die allesamt wichtig für den Erfolg sind. Die erneuerbaren Energien müssen ausgebaut werden, der Energieverbrauch muss gesenkt, und die Energieeffizienz gesteigert werden. Zum Energiesektor gehören Wärme, Strom und Verkehr.

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