Der türkische Präsident hat der ARD ein Interview gewährt. Nach dem Militärputsch erzählt Recep Tayyip Erdogan seine Sicht der Dinge. Die haben mit der Realität nicht immer viel gemeinsam.

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)

Stuttgart - Interviews gehören zu der hohen Kunst des Journalismus. Was am Ende wie ein lockerer Plausch aussehen soll, braucht aber penible Kenntnis der Materie – und eine Vorbereitung auf den Gegenüber. Zumindest dann, wenn dem Gesprächspartner mehr als Standardfloskeln entlockt werden sollen. Bei Zeitungen und Zeitschriften gehört es zu den Gepflogenheiten der Branche, dass die abgetippte Aufzeichnung vom Interviewten noch einmal korrigiert werden darf, bevor sie gedruckt wird. Politiker aller Couleur wissen das natürlich. Überraschungscoups können den Journalisten da also gar nicht gelingen, der Interviewte ist Herr des Geschehens. Das Fernsehen hat in diesem Punkt unbestreitbare Vorteile. Es kann ein Gespräch live senden, oder doch immerhin als Aufzeichnung ohne Schnitte. Journalisten im TV haben also viel eher die Möglichkeit, den Gegenüber zu stellen, als Journalisten, deren Arbeit in gedruckter Form erscheint.

 

Von verbalem Erklärungsnotstand weit entfernt

Es wäre also durchaus eine Chance für die ARD gewesen, dem türkischen Präsidenten Neuigkeiten zu entlocken oder ob seines Verhaltens in einen Erklärungsnotstand zu bringen, als die Kameras im Präsidentenpalast aufgebaut wurden. Mit Sigmund Gottlieb hat die ARD einen Mann gegenüber Recep Tayyip Erdogan platziert, der senderintern durchaus als Schwergewicht gilt. Der Chefredakteur des Bayerischen Fernsehens ist dem breiten Publikum als meinungsstarker Kommentator der Tagesthemen bekannt. Die ARD hat den Termin wichtig genommen, so wichtig, dass extra das Programm geändert wurde, um den Beitrag auszustrahlen. Am Montagabend kurz vor elf haben die Verantwortlichen das 30-minütige Interview kurzfristig platziert, und die überaus sehenswerte Reportage zur Überlastung der deutschen Justiz noch weiter in Richtung Mitternacht verschoben. Allerdings: von einem verbalen Erklärungsnotstand war der türkische Präsident weit entfernt. Es gab vielmehr so etwas wie Erdogans Märchenstunde.

Beispiel Bildung: Nach dem gescheiterten Putsch hat Erdogan rund 30 0000 Lehrer gefeuert – das gebe kein Bildungsproblem, so der Präsident. Beispiel Wirtschaft: Die Investoren verlassen das Land, die Währung ist im Sinkflug, die Angst ist groß. „Momentan sieht es in der Türkei sehr gut aus“, sagt Erdogan. Nun ist es gar nicht so, dass Sigmund Gottlieb unkritische Fragen gestellt hat. Anders als Jörg Schöneborn, der vor gut zwei Jahren den russischen Präsidenten Wladimir Putin interviewte und von dem in sehenswerter Manier vorgeführt wurde, war der Bayer auch durchaus vorbereitet. Die Dreistigkeit, mit der Erdogan das Gegenteil von dem behauptete, was als öffentliches Wissen im Westen vorhanden ist, die schien dann aber doch die eine oder andere Nachfrage zu blockieren.

Das Thema Todesstrafe wird zum Höhepunkt

Einen Höhepunkt der besonderen Art gab es daher beim Thema Todesstrafe. Ob er sie wirklich einzuführen gedenke, wurde Erdogan von Gottlieb gefragt. Der türkische Präsident tat das, was sonst gar nicht seine Art ist: er nahm sich zurück, verwies auf den Willen des Volkes, das diesen Wunsch hege, und darauf, dass „ich kein König bin, wir leben in einem demokratischen Rechtsstaat“. Ein paar mehr falsche Fakten gab es noch obenauf, als Erdogan erklärte, dass nur Westeuropa auf staatliche Exekutionen verzichte, die Mehrheit der Welt aber nicht. Das ist schlicht und ergreifend nicht richtig.

Dass Erdogan noch ein wenig gegen die EU stichelte, dass er offen ließ, ob sein Land weiterhin die Flüchtlingsströme aufhalten werde, geschenkt. Der Zuschauer muss sich aus den vielsagenden Andeutungen ein eigenes Bild machen. So wie er sich von dem ganzen Interview ein eigenes Bild machen muss. Der ARD ist jedenfalls ein sehr mündiges und kenntnisreiches Publikum zu wünschen, das Selbstentlarvung auch dann erkennt, wenn sie nicht völlig offensichtlich herausgekitzelt wird.