Den Herrschern in Ankara und Moskau sind kritische Geister ein Dorn im Auge. Das zeigen die Fälle der verfolgten Künstler Dogan Akhanli und Kirill Serebrennikow. In beiden geht es um die Freiheit der Kunst, kommentiert Tim Schleider.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Zwischen Granada und Moskau liegen rund 3700 Kilometer. Die Orte liegen in diesen Tagen trotzdem nah beieinander: An seinem spanischen Urlaubsort sitzt der Kölner Schriftsteller Dogan Akhanli fest. Der türkische Staat fordert seine Auslieferung, um ihn vor Gericht stellen zu können; die spanischen Behörden prüfen den Fall. In der russischen Hauptstadt steht derweil der Theater- und Filmregisseur Kirill Serebrennikow unter Hausarrest, weil gegen ihn ermittelt wird. Die Vorwürfe? Akhanli soll vor Jahren einen Raubüberfall begangen, Serebrennikow staatliche Fördergelder veruntreut haben. Aber der Verdacht liegt nahe, dass es den türkischen und russischen Instanzen keineswegs um Räuber oder Betrüger geht – sondern um die Freiheit der Kunst.

 

Wer die jüngere politische Entwicklung in Russland und der Türkei mit Sympathie begleitet, wer die Präsidenten Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdogan für mutige, zupackende Staatsmänner und lupenreine Demokraten hält – und von solchen Zeitgenossen gibt es ja in Deutschland bekanntlich einige –, der wird die beiden Fälle vermutlich anders beurteilen. Der wird darauf hinweisen, dass in beiden Fällen ordentliche Verfahren laufen, dass spätestens in einem Prozess die Wahrheit ans Licht kommt, dass auch Künstler böse Menschen sein können und dass in einem Rechtsstaat alle gleich zu behandeln sind.

Es geht darum, Kritiker einzuschüchtern

Aber solche Zeitgenossen verkennen, dass wir im Falle Russlands und der Türkei leider nicht von einem Rechtsstaat mit unabhängig arbeitenden Ermittlungs- und Justizbehörden sprechen können. In beiden Fällen sind autokratische Herrscher am Ruder, welche alle Organe des Staates nutzen, um ihre politischen Ideen und Ziele voranzutreiben, Kritiker dieser Ideen und Ziele dagegen einzuschüchtern und unschädlich zu machen. Vermutlich geht die Vorstellung zu weit, Putin persönlich stecke hinter dem Hausarrest für Serebrennikow und Erdogan persönlich habe bei Interpol die Verhaftung Akhanlis veranlasst. Aber dass die an ihrer Stelle aktiven Instanzen erst tätig wurden, als es dafür auch eine entsprechende politische Absicherung und einen Auftrag gab, davon muss man leider ausgehen.

Denn in beiden Fällen gibt es einen politischen Preis: im Falle Akhanlis eine weitere Verschärfung der deutsch-türkischen Spannungen, im Falle Serebrennikows eine bemerkenswerte Solidarisierung mit dem Regisseur unter Künstlerkollegen und im Publikum. Die gegen beide erhobenen Vorwürfe sind abwegig. Akhanli ist in der Sache bereits einmal frei gesprochen worden. Serebrennikow zählt zu den produktivsten Regisseuren der russischen Film- und Theaterszene; wenn es in Russland Menschen geben sollte, die sich an öffentlichen Geldern bereichern, wird man sie ohne viel Ermittlungsaufwand in ganz anderen Kreisen des Landes finden können.

Die Kritik der Kunst ist in Autokratien obsolet

Nein, was Dogan Akhanli in Granada und Kirill Serebrennikow in Moskau über 3700 Kilometer hinweg vereint, das ist ihre kritische Haltung gegenüber der Weltsicht der Autokraten, deren höchst bedenklichen Ideen und Ziele, deren Lügen, Betrügereien und politischen Verbrechen. Beide glauben an die Kraft der Literatur, des Theaters und des Films, Geschichten zu erzählen und Bilder zu finden, die Widerspruch und Widerstand in den Köpfen der Menschen säen können. Deswegen soll an ihnen ein Exempel statuiert werden, das weit über ihren persönlichen Fall hinaus ausstrahlt: In den Reichen der Autokraten ist die Kritik der Kunst obsolet, wer sich den Herrschern in den Weg stellt, muss mit Repression rechnen, dessen Existenz steht auf dem Spiel. All jene, denen dieses Vorgehen Angst macht, haben immerhin eine wirksame Gegenwehr: Anteil zu nehmen am Schicksal dieser Künstler, Journalisten und Wissenschaftler. Dann wird auch die freie Kunst zu einer Macht.