Erfolgreiche Flucht nach Stuttgart Seine Mutter hat er seit elf Jahren nicht mehr gesehen

Aabid fühlt sich in Stuttgart zu Hause. Foto: Leif-Hendrik Piechowski/Leif Piechowski

Er hat einen gut bezahlten Job, einen deutschen Pass und wird bald Vater – eigentlich könnte Aabid, der als Geflüchteter nach Deutschland kam, glücklich sein. Wenn da nicht der Schmerz darüber wäre, dass seine Mutter ihn nicht besuchen darf.

Vor elf Jahren steht Aabid mit seinen Eltern vor ihrem Haus in Hama, einer Stadt im Zentrum Syriens. Er kennt hier jeden Stein, ist hier aufgewachsen. Das Taxi, das ihn zum Flughafen bringen soll, müsste jeden Moment da sein. Auch die Nachbarn sind gekommen, um sich zu verabschieden.

 

„Ich erinnere mich vor allem an die Augen meines Vaters“, sagt Aabid mit leiser Stimme. Ungewöhnlich schweigsam sei der an diesem Tag gewesen. Der Sohn hat den Vater als lebensfrohen Menschen in Erinnerung, stets umspielte ein Lächeln seine Lippen. Doch an diesem Tag wirkt er wie versteinert. Die Mutter drückt den Sohn immer wieder an sich. Viele der Nachbarn, die um sie herumstehen, haben Tränen in den Augen.

Die Eltern scheinen zu ahnen, dass sie ihren ältesten Sohn lange Zeit nicht wieder sehen werden. Doch sie versuchen nicht, ihn aufzuhalten. In Syrien tobt der Bürgerkrieg. Wäre Aabid damals geblieben, wer weiß, ob er noch leben würde.

Er selbst denkt, dass er in ein paar Monaten zurück sein wird. Er ahnt nicht, dass es das letzte Mal ist, dass er seinen Vater sieht.

Einbürgerung aufgrund „besonderer Integrationsleistungen“

Heute lebt Aabid in einer anderen Welt. Was hinter ihm liegt, kann man wohl als Erfolgsgeschichte bezeichnen: Neun Jahre sind vergangen, seitdem er am Stuttgarter Hauptbahnhof von der Polizei aufgegriffen wurde. „Ich werde meistens jünger geschätzt, als ich bin“, sagt der schlanke Mann mit den dunklen Augen und den dichten Locken. Als er von zu Hause weg ist, war er 23, nun ist er 34 Jahre alt.

Er spricht schnell, akzentuiert und mit leicht schwäbischer Einfärbung. Nur wenn er von seinen Eltern und der Flucht nach Deutschland erzählt, gerät er ins Stocken. Aabid arbeitet inzwischen bei einem Energiedienstleister. Aabid ist nicht sein richtiger Name, weil er Nachteile für seine Mutter befürchtet, will er anonym bleiben.

Mit seiner Frau, die aus der Region stammt, hat er vor Kurzem eine geräumige Wohnung im Raum Stuttgart bezogen. Die beiden erwarten ein Kind. Weil Aabid keine gültige Geburtsurkunde vorlegen konnte, haben sie sich in Dänemark trauen lassen. Sie wollten unbedingt heiraten, aber nicht wegen seiner Staatsbürgerschaft. Den deutschen Pass hat Aabid aufgrund „besonderer Integrationsleistungen“ erhalten. Er kann es manchmal immer noch nicht fassen, dass er einen der schlechtesten und einen der besten Pässe der Welt in den Händen hält.

Mutter in Syrien auf sich allein gestellt

Auch wenn er sich kein anderes Leben mehr vorstellen kann, denkt Aabid oft an seine Heimat. Eigentlich wollte er nie weg. Damals hat er alles in Syrien, um glücklich zu sein: eine gute Arbeit, viele Freunde, eine große Familie. Zu gerne würde er seiner Frau zeigen, wo er aufgewachsen ist. Doch das geht nicht. In Syrien würde er wahrscheinlich festgenommen werden.

Außerdem ist da die Sehnsucht nach seiner Mutter, sein größter Wunsch ist es, sie für ein paar Monate zu sich zu holen. „Als ich gegangen bin, war ich noch ein Kind. Ich möchte, dass meine Mutter sieht, dass ich ein Mann geworden bin“, sagt er. So gerne würde er mit ihr in seinem Auto einen Ausflug nach Bad Urach machen. Schon oft hat er sich ausgemalt, wie er ihr die Uracher Wasserfälle zeigt, einen Ort, den er besonders mag. „Meine Mutter liebt die Natur“, sagt er und lächelt.

Schon bei seiner Hochzeit konnte sie nicht dabei sein. Dass sie wahrscheinlich auch bei der Geburt seiner Tochter fehlen wird, schmerzt ihn noch mehr. Es ist das erste Enkelkind, das ihren Nachnamen tragen wird. „Die Geburt des Enkelkinds ist in unserer Tradition noch wichtiger als die Hochzeit“, sagt der Sohn.

Seine größte Sorge ist, dass es ihm mit seiner Mutter so geht wie mit dem Vater. 2019 erreicht ihn die Nachricht, dass sein Vater überraschend gestorben ist. Er erlebt den schwersten Moment seines Lebens. Acht Jahre hatte er ihn zu diesem Zeitpunkt nicht mehr gesehen. An der Trauerfeier kann er nur per Videoschalte teilnehmen.

Da seine vier Geschwister inzwischen ebenfalls in Deutschland leben, ist seine Mutter auf sich allein gestellt. Sie will nicht dauerhaft aus Syrien weg, aber sie will ihre Kinder besuchen. Dafür nimmt sie die lange Autofahrt nach Beirut im Libanon auf sich, wo die nächste deutsche Botschaft liegt. Vergeblich, ihr Visumgesuch wird abgelehnt. Der Botschaftsmitarbeiter, ein Libanese, hört ihr gar nicht richtig zu. „Fahren Sie wieder nach Hause, Sie bekommen niemals ein Visum“, sagt er. Er wird recht behalten.

Die Angst vor der Armee sitzt noch immer in den Knochen

Manchmal beschleichen den Sohn Schuldgefühle, dass er seine Eltern zurückgelassen hat. Er geht dann noch einmal die Optionen durch, die er damals hatte: für Assad kämpfen, gegen ihn kämpfen oder fliehen. Die Armee weiß, dass er sich an Demonstrationen beteiligt hat. Jede Nacht muss Aabid Angst haben, abgeholt zu werden. Noch immer träumt er manchmal davon, dass plötzlich Soldaten in seiner Wohnung stehen.

Seine Flucht führt ihn nach Ägypten, Libyen und in die Türkei. Von dort aus setzt er mit einem Boot nach Griechenland über. Über die Balkanroute schlägt er sich nach Deutschland durch. „Ich wusste noch nicht einmal, dass Deutschland Deutschland heißt“, sagt er.

Er macht sich in Stuttgart als Musiker einen Namen

Über seine erste Zeit in „der Unterkunft“ in Leinfelden-Echterdingen spricht er nicht gerne. „Vor allem die Musik hat mir bei meiner Ankunft sehr geholfen“, sagt Aabid, der leidenschaftlich Geige und Oud spielt, eine orientalische Knickhalslaute. Sie ist eine Verbindung zum Vater, der ihm das Lautenspiel beigebracht hat. Die Musik seiner Heimat kommt bei den Einheimischen gut an. Er gibt erste kleine Konzerte und gründet ein Ensemble. Wenig später übernimmt er die Leitung eines orientalischen Chors, wird Mitglied des Orchesters der Kulturen, tritt im Theaterhaus in Stuttgart auf.

Da sein Studienabschluss zunächst nicht anerkannt wird, jobbt er als Verkäufer bei einem Stuttgarter Warenhaus in der Parfümabteilung. Die Arbeit ist sehr hart, doch sein Deutsch wird immer besser. Außerdem lernt er dort seine spätere Frau kennen. Nach einiger Zeit bekommt er die Zusage für ein Praktikum bei einer baden-württembergischen Bank, ein Türöffner für seine jetzige Stelle.

Entscheidung wird von der Botschaft getroffen

Er habe lange darauf gewartet, seine Mutter in Deutschland zu empfangen, erzählt Aabid. Nun, da er eine große Wohnung und ein gutes Einkommen hat, schien der Zeitpunkt endlich gekommen zu sein. Als er erfährt, dass das Visum abgelehnt wurde, ist er enttäuscht und wütend. „Ich will lediglich, dass meine Mutter uns drei Monate besuchen darf. Es geht nicht darum, dass sie für immer hierbleibt“, sagt er und schüttelt den Kopf.

Eine Erfahrung, die die Familie mit vielen anderen teilt: „Es ist als syrischer Staatsbürger sehr schwer, ein Schengen-Visum zu erhalten. Aufgrund der Verhältnisse im Land nehmen die Behörden an, dass die Menschen in Deutschland bleiben wollen“, sagt Loulou Kinski, Geschäftsführerin des Münchner Flüchtlingsrats.

Aabid hat inzwischen einen Anwalt um Unterstützung gebeten. Zudem erwägt er, es bei der deutschen Botschaft im Irak zu versuchen. Aufgeben ist nicht seine Art. Er hat schon so vieles geschafft.

Schengen-Visum für Syrer

Vergabe
Auf Anfrage bestätigt das Auswärtige Amt, dass für die Visumvergabe neben der „Plausibilität des Reisezwecks“ und der „Finanzierung der Reise aus eigenem Vermögen“ die „Bereitschaft des Visuminhabers, vor Gültigkeitsablauf des Visums wieder aus dem Schengen-Raum auszureisen“, entscheidend sei. Die Gespräche mit den Antragsstellern würden in den Botschaften von Ortskräften geführt, die Entscheidung liege jedoch bei entsandten Mitarbeitern aus Deutschland.

Zahlen
Wie viele Anträge im vergangenen Jahr bei der für Syrien zuständigen Botschaft in Beirut eingegangen sind, darüber will das Auswärtige Amt keine Auskunft geben. Insgesamt seien 1400 Schengen-Visa an syrische Staatsangehörige vergeben worden, teilt sie lediglich mit.

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