Nach einem Artikel über das frühere Kinderheim in Sillenbuch haben sich einige Menschen gemeldet – und ihrerseits von damals erzählt.

Klima & Nachhaltigkeit: Judith A. Sägesser (ana)

Sillenbuch - Einen Kinderfreund hat Axel Kurth zwar bislang nicht wiedergefunden. Unzufrieden will sich der 63-jährige Mann trotzdem nicht zeigen. „Ich bin ja froh, dass sich überhaupt jemand gemeldet hat“, sagt er. Und gemeldet haben sich in der Tat einige. Leute, die sich wie Axel Kurth gern ans Kinderheim Sillenbuch entsinnen – im kindlichen Jargon damals übrigens Kisi genannt.

 

Das Kisi war ein Kinderbeobachtungsheim. Das klingt härter, als es war. Die Betreuer haben eingeschätzt, in welcher Einrichtung die Kinder am besten aufgehoben sind. Vor Kurzem hat unsere Zeitung darüber berichtet, dass Axel Kurth Anfang der Sechziger dort gewohnt hat und nun über ein Forum im Internet Leute sucht, die mit ihm zusammen im Kisi waren.

Egbert-Hans Müller ist zweimal die Woche ins Kisi gefahren

Auf den Artikel hin hat sich zum Beispiel Egbert-Hans Müller aus Stuttgart-Mitte gemeldet, auch bekannt unter dem Künstlernamen Reinhard Gröper. Zwischen 1956 und 1964 fuhr er jeden zweiten Samstag von Bad Cannstatt nach Sillenbuch ins Kisi.

Müller war zu der Zeit Gerichtsreferendar und wollte Jugendrichter werden. Ins Kisi kam er ursprünglich, um praktische Eindrücke zu sammeln – bei Jugendlichen, die wegen kleinerer Delikte Strafauflagen bekommen hatten. Dieses Ziel verblasste alsbald. „Ich war gefangen“, sagt der 84 Jahre alte Müller. Von den Kindern, „von der ganzen Hausatmosphäre dort“.

1979 ist sein erstes Buch erschienen

Also besuchte er die Kinder weiterhin ehrenamtlich. Er hat mit den Mädchen und Jungen gesungen, gespielt, ist mit ihnen durch den Wald spaziert oder hat ihnen vorgelesen – „wir saßen auf dem Fußboden, alle um mich rum“, erzählt er. Egbert-Hans Müller ist kein Jugendrichter geworden, die längste Zeit seines Berufslebens war er beim Kultusministerium Baden-Württemberg angestellt – für ihn eine schicksalhafte Wendung.

Denn trotz der eher bürokratischen Jobbeschreibung durfte er Kunstluft schnuppern. Im Jahr 1979 erschien unter seinem Pseudonym Reinhard Gröper sein erstes Buch. Heute hat er unter diesem Namen einen eigenen Wikipedia-Eintrag; dieser verrät, dass er unter anderem 1994 das Bundesverdienstkreuz und den Literaturpreis der Stadt Stuttgart erhalten hat.

Die Männer haben sich per E-Mail ausgetauscht

Von Axel Kurth hat er kein Gesicht vor Augen, wie Müller sagt. In der Zeit habe er ja unzählige Kinder kennengelernt. Trotzdem haben sich die beiden Männer kürzlich per E-Mail ausgetauscht. So schreibt Axel Kurth, der übrigens in der Nähe von Worms wohnt, an Egbert-Hans Müller: „An den Ausflug zum Neuffen, an dem es ganz schön spukte (mit Ihrer tatkräftigen Unterstützung) denke ich auch gerne zurück.“

Einer, den ebenfalls vor allem Nostalgie mit dem Kisi verbindet, heißt Hartmut Deckert. Der 67-Jährige aus Aspach sagt von sich selbst, dass er keine schöne Kindheit hatte. Schlechtes Verhältnis zu den Eltern, viele Strafen, im Heim, im Internat – kurzum: eine tragische Biografie. Das Kisi war so etwas wie eine Insel für ihn. An die Samstage denkt er besonders gern zurück. Auch, aber nicht nur wegen Müller.

„Samstags war immer das große Fressen“, sagt Deckert. Es gab Brezeln, frische Brötchen – und Romadur-Käse. „Der hat herrlich gestunken und herrlich geschmeckt.“ Hartmut Deckert ist mit dem angstvollen Wissen aufgewachsen, dass es rasch Prügel setzt. „Aber das Kisi war absolut gewaltfrei“, sagt er. Die schlimmste Strafe, die ihm dort auferlegt worden ist, war, dass er mit anderen zusammen den Waschraum schrubben musste. „Da haben wir dann rumgeplanscht wie die Weltmeister.“

Die Heimleiterin hatte stets einen Dackel

Gemeldet hat sich übrigens auch Sibylle Kugler. Sie, Jahrgang 1937, ist im Jahr 1977 nach Sillenbuch an die Fridinger Straße gezogen. Über ihr im Haus wohnte Isolde Rack, die das Kisi geleitet hatte. Später sei Isolde Racks enge Freundin Frau Moser oft da gewesen; die Frau, an deren Vornamen sich Sibylle Kugler nicht mehr erinnert, habe auch im Kisi gearbeitet. Isolde Rack habe stets einen Dackel gehabt. War einer gestorben, „hat sie ihn gleich wieder ersetzt“, sagt sie. Die Kisi-Leiterin „war eine sehr zuvorkommende Person“.