Erster Weltkrieg – und Nationalismus heute Die bittere Ernte von 1918
Von der Globalisierungs-Frustration des Jahres 1914 führt eine direkte Linie zum finsteren Kriegsende 1918. Hier liegen beunruhigende Parallelen zu heute.
Von der Globalisierungs-Frustration des Jahres 1914 führt eine direkte Linie zum finsteren Kriegsende 1918. Hier liegen beunruhigende Parallelen zu heute.
Stuttgart - Vier Jahre nach dem Gedenken an den Kriegsausbruch 1914 dominiert in diesem Herbst die Erinnerung an dessen Ende und Folgen im Jahr 1918. Das ist die übliche, lineare Betrachtungsweise von Geschichte. Doch wer den Ersten Weltkrieg wirklich verstehen will, sollte noch einmal auf dessen Anfang blicken.
Erst wenn man das desaströse Ergebnis von 1918 mit den nationalistischen Träumen und Illusionen viereinhalb Jahre vorher kontrastiert, wird deutlich, wie schnell eine vermeintlich stabile internationale Ordnung kollabieren kann. Und dies zeigt, wie gefährlich der Wunsch nach dem Abschütteln von nationalen Fesseln und nach einer radikalen Veränderung einer vermeintlich krisenhaften Gegenwart sein kann. Und doch sind Menschen für solche Phantasien anfällig – auch heute. Ein Brexit oder ein Donald Trump wären ohne diesen Impuls nicht zu erklären.
Wer sich heute fragt, was denn die Europäer genau wollten, als sie 1914 die Lunte an das Pulverfass legten, der bleibt ratlos zurück. Der Kontinent ist mit unklaren, von keiner Kriegspartei wirklich langfristig durchdachten Zielen in die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts gestolpert. Am ehesten kann man von einem diffusen Drang sprechen, die internationale Ordnung umzukrempeln. Die irrsinnige Euphorie, mit der gerade die gebildeten, bürgerlichen Kreise in den Krieg taumelten, war von der Hoffnung gespeist, dass eine als unbefriedigend und überfordernd wahrgenommene Gegenwart abgelöst würde. Durch was? Das blieb nebulös. Eigentlich hätten die Militärs angesichts moderner Waffen wissen müssen, dass das kein Spiel mit Hurra auf der grünen Wiese werden würde. Und trotzdem stürmten die Truppen anfangs noch so aufeinander los, als würden Schlachten weiterhin fast wie zu Zeiten Napoleons entschieden.
Erst im Rückblick in den Jahren nach 1918 wurde das, was man so fahrlässig zerstört hatte zur „guten alten Zeit“, zur „Belle époque“. Über das Ergebnis nach mehr als vier Jahren des Abschlachtens konnte kein vernünftig denkender Mensch glücklich sein. Auch wenn Deutschland im Jahr 1918 etwas verspätet die Demokratie erreichte. Doch das geschah unter Umständen, die ihren baldigen Untergang und die noch größere Katastrophe besiegelten.
Wenn es um die augenblickliche Krise der Demokratie und der internationalen Ordnung geht, dann landen viele Kommentatoren bei den Erschütterungen der zwanziger und dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Doch das waren Nachkriegsbeben. Die viel spannendere Epoche für einen Vergleich mit der Gegenwart ist die Zeit nach der Jahrhundertwende 1900. Denn diese sich rasant globalisierende und von technologischen Sprüngen gekennzeichnete Welt ähnelte viel mehr der unseren als die Krisenjahre nach dem Ersten Weltkrieg, in denen sich der Zweite schon ankündigte.
Warum werden Menschen des Friedens überdrüssig? Wie hat eine Epoche des enormen technischen Fortschritts, der wachsenden Prosperität, der Internationalisierung und Demokratisierung, wie es die Jahre nach 1900 zweifelllos waren, sich übermütig selbst abgeschafft und ihre Zerstörung provoziert? Das sind Fragen, die aktueller sind denn je. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat das begriffen, als er das Gedenken an hundert Jahre Kriegsende zur aktuellen Mahnung an Europa und die Welt gemacht hat.
Der Erste Weltkrieg war auch die radikale, vermeintlich befreiende Antwort auf eine überkomplex gewordene Welt. Eine Welt, in der es der Mehrheit der Menschen auf der Welt dank einer langen Friedensphase zwischen den großen Mächten immer besser ging – in der aber auch alte Gewissheiten in rasantem Tempo zerbrachen.
Elektrifizierung, Telefon, die Verbreitung des Automobils, die Erfindung des Flugzeuges, global vernetzte Finanzmärkte, wachsende Exportquote, neue Kommunikationsmittel wie der Film – der Katalog der in alle Lebensbereiche eingreifenden, technologischen Umbrüche war vielleicht noch größer als heute. Auch die Wanderungsbewegungen, ob die Binnenmigration oder die Einwanderung über Grenzen hinweg, waren relativ zur Bevölkerung deutlich größer als heute.
Wie tief greifend traditionelle Wertvorstellungen infrage gestellt wurden, dafür gibt es kein besseres Beispiel als die Kunst. Expressionistische Literatur, atonale Musik, der Weg der Malerei in die Abstraktion – disruptiver ging es nicht, um eine aktuelle Modevokabel aufzugreifen. Das Alte verschwand, doch das Neue bot keinen Halt. An der Oberfläche war dies eine Phase des ökonomischen Aufschwungs. Insbesondere den zunehmend globalisierten Kapitalisten ging es blendend. Und diese sahen im Übrigen auch keinen Grund, ihre wirtschaftlichen Interessen durch Kriegsspiele zu gefährden. Gar nicht anders als heute.
Aber nicht nur die Künstler kultivierten den Überdruss. Es gab mitten im wirtschaftlichen Erfolg das Gefühl, zu kurz zu kommen, das insbesondere die Deutschen umtrieb. Deutschland zuerst. Mal richtig draufschlagen. Der US-Militärhistoriker Michael Howard hat in seinem Buch „Die Erfindung des Friedens“ dieses psychologische Muster auf den Punkt gebracht: „Es gibt immer etwas in einer rationalen Ordnung, was Menschen zutiefst und vielleicht zu recht unbefriedigt lässt. Militante, nationalistische Bewegungen oder radikale Verschwörungstheoretiker bieten ein ausgezeichnetes Ventil für diese Langeweile.“ Klingt das irgendwie auch ein bisschen nach „Merkel muss weg“?
Die auf beängstigende Weise, vor allem durch den Rückzug der USA, ins Bröseln geratene Weltordnung der Gegenwart ist von mehr und stabileren internationalen Institutionen durchzogen als es die Welt vor hundert Jahren war. Wir haben insofern noch mehr zu verlieren. Doch auch damals gab es Ansätze: etwa ein durch den Goldstandard eng verflochtenes Internationales Zahlungssystem. Es gab Versuche einer moralischen Weltordnung wie die Den Haager Konferenzen, es gab schon einen Friedensnobelpreis.
Die Welt, die sich 1914 in den Krieg gestürzt hatte, verschleuderte eine internationale Ordnung, die Europa nach dem Ende des deutsch-französischen Krieges 1871 eine der längsten Friedensphasen seiner Geschichte beschert hatte. So unvollkommen im Vergleich zu heute vor hundert Jahren noch die internationalen Institutionen waren, sie hätten durchaus das Potenzial zur friedlichen Konfliktbewältigung geboten. Doch sie wurden gerade von vermeintlich modernen Kräften von ganz links bis zu ganz rechts verachtet. Frieden und Wohlstand reichten nicht.
Auch heute träumt der Nationalpopulismus weltweit vom kurzen Prozess, vom Abschütteln der Zwänge, vom großen, nationalen Aufbruch. In vielen Ländern gibt es das Gefühl, zu kurz zu kommen, in der bestehenden Ordnung über den Tisch gezogen zu werden. Ironischerweise gilt das besonders für die Supermacht USA unter Donald Trump. Und was sind die Hinterzimmer der EU gegen nationale Demagogen, die sagen, wo es lang geht?
Heute wie vor hundert Jahren saugen diese Kräfte ihre Energie aus dem Nationalismus, ohne im leisesten andeuten zu können, welche bessere Ordnung sie etablieren wollen. „Man möchte eigentlich denken, dass die Menschen gegen eine solche Angstmacherei immun sind, angesichts der Tatsache, dass die Welt niemals friedlicher und wohlhabender war,“ sagt der US-Konservative und Trump-Gegner Max Boot.
Es war 1914 noch nicht die systematische und gezielte Gewalt- und Vernichtungspolitik eines Adolf Hitler, die in die Katastrophe führte. Es waren „Schlafwandler“, wie sie der britische Historiker Christopher Clark genannt hat – wenngleich einige aggressiver waren als die anderen. Sie hatten keine Ahnung, auf was sie sich da wirklich einließen. Hätten sie es geahnt, wären wohl viele Akteure – anders als später Adolf Hitler – vor den Konsequenzen ihres Handelns zurückgeschreckt. Was die Europäer so leichtfertig verspielt hatten, begriffen sie erst hinterher.
Nach Millionen Opfern und endlosem Leiden war die Welt im Jahr 1918 in der Tat radikal anders. Die Umwälzung war geglückt, um es zynisch zu formulieren. Doch sie war ganz anders geraten, als man es 1914 erträumt hatte. Monarchien waren kollabiert, das vor dem Krieg stabile internationale Wirtschafts- und Finanzsystem war ruiniert, die alte Ständegesellschaft war am Ende. Der wahre Sieger in den folgenden zwei Jahrzehnten war der Faschismus, weil er die im Krieg entfesselten Instinkte am besten befriedigte. Schon vor Kriegsausbruch hatte es ein wachsendes Bedürfnis nach Sündenböcken gegeben, ob es nun „Erbfeinde“ oder Einwanderer waren. Der Krieg multiplizierte dies vor allem bei den Verlierern. Schuld waren die anderen, die Sozis oder, immer wieder, die Juden. 1918 wurde so zur Zwischenetappe zu einem noch furchtbareren Krieg.
Nach dem Ersten Weltkrieg wurden in Europa tausende Kilometer neue Grenzen gezogen, insbesondere in Osteuropa erst nach weiteren blutigen Kämpfen. Ein Erfolg des Nationalismus, wenn man das so nennen will. Diese Grenzen bestehen heute noch – auch wenn sie später durch europäische Institutionen gemildert wurden.
Diese Trennungslinien wurden oft erst durch „ethnische Säuberung“ möglich, denn das alte Europa war in seiner sprachlichen und ethnischen Vermischung immer komplexer als es die Fiktion von der nationalen Identität wahrhaben wollte. Das halbe Jahrhundert der Gewaltexzesse, das im 20. Jahrhundert von eben diesem Identitätswahn provoziert wurde, gerät aber heute beängstigenderweise immer mehr in Vergessenheit. Immigration hat die Nationalstaaten selbst über Jahrzehnte von innen verändert, hat sie komplexer und multikultureller gemacht. Selbst die radikalsten europäischen Nationalpopulisten träumen nicht mehr von gewaltsamen Grenzveränderungen. Aber sie pflegen Fantasien von Grenzbegradigungen nach innen: der klaren Trennlinie zwischen dem „Volk“ und den „Fremden“.
Die äußeren Grenzen in Europa sind heute stabil. Einen großen Krieg wie vor hundert Jahren wird es wohl nicht mehr geben, auch wenn Russland an der Peripherie zuschlagen könnte. Doch es sind bittere Konflikte unterhalb dieser Schwelle möglich. Und ein militärisches Aufeinanderprallen von China und den USA ist absolut denkbar. Die aktuellen Zerstörer der bestehenden internationalen Ordnung sind deshalb vom selben Überdruss und Leichtsinn besessen wie ihre Vorväter vor hundert Jahren. Es ist verführerisch, auf die bestehenden Verhältnisse dreinzuschlagen. Doch am stärksten prügeln immer diejenigen, die nicht die leiseste Vorstellung von stabilen Alternativen haben.
Der US-Publizist Robert Kagan hat das vor kurzem, mit Blick auf die fahrlässige Außenpolitik der USA unter Donald Trump so formuliert: „Eine Weltordnung ist eines der Dinge, über welche die Menschen erst nachdenken, wenn sie verschwunden ist“, schreibt er. „Wenn die vorherrschende Ordnung zusammenbricht, wenn die Steine umgedreht werden, dann krabbelt heraus, was unter ihnen verborgen war: die dunkelste Seite des Menschen. Dies ist, was in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geschehen ist.“