Der Fan spinnt. Und zahlt. Mittlerweile rennen schon 40 000 Zuschauer zum Altherrenfußball ins Stadion – schreibt unser Kolumnist Oskar Beck.

Stuttgart - Für immer mehr Fußballfans ist das Warten auf den Saisonstart der Bundesliga so unerträglich wie an Heiligabend das Warten der Kinder aufs Christkind. Laut war jedenfalls vor ein paar Tagen in Dortmund die Vorfreude: 40 000 sind zum Knaller gegen den FC Liverpool gerannt, und Sport 1 hat live übertragen, wie die BVB-Kanonen die Engländer 3:2 wegputzten.

 

Dabei (und jetzt halten Sie sich fest) waren es nur die alten Kanonen – die von vorgestern.

Stephane Chapuisat, der Borussen-Schappi aus den 90ern, hat den rostigen Briten um Ian Rush und Robbie Fowler gezeigt, wozu ein ergrauter Panther selbst mit wippendem Bäuchlein noch in der Lage ist, wenn ein Spiel nur zweimal dreißig Minuten dauert. Wie Fische an Land haben die Veteranen nach Luft gejapst, aber Jubelstürme geerntet. Doch der Höhepunkt des Tages war Dortmunds Trainer Lucien Favre, der mit Blick auf die neue Saison durchs Stadion rief: „Wir haben hart gearbeitet.“ Das war der Satz, auf den die 40 000 sehnsüchtig gewartet hatten. Dafür waren sie gekommen.

Wir ahnen jetzt, was Ringelnatz meinte, als er reimte: „Ich kenne wen, der litt akut an Fußballwahn und Fußballwut.“

Fußball als Opium des Volkes

Beim VfB sieht es nicht viel schlechter aus. Selbst wenn in der Mercedes-Benz-Arena nur der Platzwart den Rasen mäht, kommen mittlerweile schon 60 000 Schwaben, um ihn anzufeuern. Oder wenn Atlético Madrid mit der Reserve anrückt. Auf Schalke ließen sich circa 100 000 am Sonntag die Saisoneröffnung nicht nehmen. Der Fußball war dort immer Opium fürs Volk. Beim letzten Uefa-Cup-Gewinn haben die königsblauen Fans das Gras büschelweise aus dem Rasen geschnitten, trotz der Fontänen, die ihre Helden dort zuvor hineingeschnäuzt hatten. Halb Schalke hat das Grüne dann als Schnittlauch in der Sonntagssuppe gegessen. Aber überall sind die Fans inzwischen ballaballa. 75 000 kamen letzte Woche zum Warmlaufen des FC Bayern gegen Manchester United – der packende Höhepunkt des Spiels war das mürrische Trainergesicht von José Mourinho. Auch zuletzt vor dem Supercup-Finale der Bayern gegen Frankfurt sollen Tausende von Fans neben den Kassenhäuschen in Zelten übernachtet haben, aus Angst, keine Karte mehr zu ergattern. Dieser Pokal ist zwar so unnötig wie ein Kropf, aber die meisten Fans ahnen das nicht, weil zum Beispiel Bayern-Trainer Niko Kovac eisern behauptet: „Das ist ein wichtiger Titel.“

In Wahrheit geht es um die Goldene Ananas. Aber dem zeitgemäßen Fan reicht das, wochenlang hat er sich zuletzt sogar Testspiele angetan, in denen die Besten wegen ihres Nach-WM-Urlaubs fehlten. Aber noch erstaunlicher war, dass die Clubs für dieses Beinevertreten ihrer zweiten Garnitur Eintrittsgeld verlangten. Und dass es Menschen gibt, die es zahlten.

Kürzlich spielte der FC Bayern in Klagenfurt gegen Paris Saint-Germain. Es fehlten Neymar, Mbappé und überhaupt beiderseits so gut wie alle Stars, und für die 23 000 Zuschauer war das Beste am Spiel die Mitteilung der Veranstalter: „Ihre Eintrittskarte berechtigt zur kostenlosen Nutzung der Linienbusse der Stadtwerke Klagenfurt AG von drei Stunden vor Spielbeginn bis Betriebsende.“ Diese Großzügigkeit klang wie der blanke Hohn, denn die Karten kosteten zwischen 57 und 87 Euro, auf Champions-League-Niveau. Das weltweite Netz schäumte, „unverschämt“, tobten die einen, „bodenlos“, die anderen.

Der Fußball ist erfinderisch

Aber die Stadien sind voll. Deshalb erfindet der Fußball immer neue Wettbewerbe wie den International Champions Cup der besten Clubteams oder den Nations Cup der Länderteams, der demnächst startet. Es gilt das alte Bauernstallmotto: Die Kuh muss gemolken werden, solange sie Milch gibt. Die Euter sind voll, denn die meisten Leute kennen nur noch drei Sportarten: Fußball, Fußball und Fußball. Und die Zahl der Fans steigt beharrlich, zu den herkömmlichen Zuschauern und den Ultras gesellen sich immer mehr VIPs, die nicht unbedingt kommen, um Fußball zu sehen, sondern um gesehen zu werden. Man sieht auch immer mehr Teenies, die auf der Tribüne kreischend Selfies schießen. Ob der Fußball da unten gut ist, wissen sie nicht. Hauptsache, Fußball ist cool.

Dieses einig Volk von Fußballverrückten wird angeführt von der Kanzlerin. Angela Merkel ist sogar einmal bis Südafrika geflogen, um sich mit Mesut Özil im Dunstschweiß der Dusche fotografieren zu lassen. Bei der Leichtathletik-EM in Berlin wurde sie letzte Woche vermisst, aber Politiker folgen immer der großen Herde, und die Herde geht zum Fußball.

Das Fernsehen besorgt den Rest. Es füttert den hungrigen Fan. Wohin die Reise geht, war spätestens abzusehen, als vor Jahren in der fußballfreien Zeit die Rasenheizung aus dem Keller des Münchner Stadions übertrugen wurde, mit fesselnden Aufnahmen der Kessel und Pumpen. Etwa zur selben Zeit sagte Ex-Weltmeister Frank Mill: „Man kann auf dem Platz keine Blähung mehr lassen, ohne dass man im Fernsehen die Wolke sieht.“ Heute wird der Furz auch noch live interviewt.

Ersatz für den Internationalen Frühschoppen

Der Fußball ist längst die dominierende Fernsehunterhaltung. Das Ziehen der Loskugeln für den DFB-Pokal moderiert als Showmaster inzwischen schon DFB-Präsident Reinhard Grindel. Und wenn Jörg Wontorra und Thomas Helmer ihre TV-Expertendebatten leiten, ähnelt das dem früheren Internationalen Frühschoppen mit Werner Höfer, nur geht es nicht mehr um den Weltfrieden, sondern um wichtigere Dinge – die Schreckensmeldung, dass Ex-Weltmeister Jérôme Boateng neulich humpelnd das Training verließ, hat jeden echten Fan schlafloser gelegt als die letzte Blitzschlag- und Hagelwarnung des Deutschen Wetterdiensts.

Der Fan lechzt derart nach Fußball, dass nächstes Jahr zweifellos erstmals auch live und in voller Länge übertragen will, wie die Millionarios des FC Hollywood irgendwelchen armen Kerlen vom FC Hinterpfuiteufel mit 20:1 die Bude vollhauen.

Der Fußball ist schlau. Er spürt, dass er das perfekte Manöver zur Ablenkung von den eigentlichen Problemen des Lebens ist – und das letzte Bindemittel der Gesellschaft, die immer mehr auseinanderklafft. Der Fußball ist der letzte Kitt, beim Fußball rücken alle zusammen. Und es ist nur ein haltloses Gerücht, dass sich der Fan vom Spektakel entfremdet. Im Gegenteil, er braucht den täglichen Schuss mit der Nadel – und ist jetzt schon süchtig nach ergrauten Herren, die mit hüpfenden Bäuchen Standfußball spielen.