Doch die politische Geschichte war eine andere. Über viele Jahrhunderte war das europäische Staatensystem geprägt von Machtrivalitäten und der Suche nach deren Ausgleich. Zwischen den frühen Nationalstaaten England und Frankreich herrschte ein Dauerkonflikt. Nach der Niederlage des europäischen Eroberers Napoleon suchte der Wiener Kongress in das europäische Staatensystem ein Ruhekorsett einzuziehen. Nur mühsam überdauerte die Vorstellung eines Machtgleichgewichts das 19. Jahrhundert. Späte Staatsgründungen wie Italien und vor allem Deutschland veränderten die Lage. Nationalistische Übersteigerungen wurde im zwanzigsten Jahrhundert ideologisch begründet und schlugen in zwei verlustreichen europäischen Kriegen auf alle Völker des Kontinents zurück. Aus Europa, das einmal die Welt beeinflusst und geprägt hatte, wurde das alte Europa. Es war nicht mehr der Mittelpunkt der Welt.

 

Insbesondere in Deutschland tut man gut daran, sich an das schwierige Leben nach dem Zweiten Weltkrieg zu erinnern. Es war mühsam, ein anderes Land zu betreten. Enzensberger erinnert sich: „Ohne einen langwierigen bürokratischen Kampf war an eine Auslandsreise nicht zu denken. Wer eine Grenze überschreiten wollte, hatte beglaubigte Einladungsschreiben vorzulegen, Visumanträge in dreifacher Ausfertigung auszufüllen, komplizierte Devisenbestimmungen und andere Hürden zu überwinden.“ Kurzum, der Prozess der europäischen Einigung hat unseren Alltag zum Besseren verändert. Ältere erinnern sich noch, wie sie in den fünfziger Jahren überraschend im Supermarkt Waren einkaufen konnten, die sie zuvor allenfalls im teuren Feinkostladen fanden. Seinen Urlaub im europäischen Ausland verbringen zu können, kam damals in Mode und wurde zu einer Massenbewegung, die man heute für selbstverständlich hält. Auf vielen Ebenen bildete sich eine europäische Einigung heraus, die man zuvor für undenkbar gehalten hatte.

Das ökomomische Zusammenwachsen ist nicht alles

Den Anstoß zu dieser Entwicklung hatte die Wirtschaft gegeben, genauer gesagt die Römischen Verträge, die fortschrittliche Europäer 1957 schlossen. Zwar hielt man am Nationalstaat fest, aber das Ziel war, Beschränkungen abzubauen und einen Binnenmarkt zu schaffen. Dieses Konzept war deshalb so erfolgreich, weil es liberal war und auf Wettbewerb setzte. Natürlich diente der Weg über die Wirtschaft auch einem politischen Ziel: Frieden in einer europäischen Neuordnung unter dem Primat von Recht und Demokratie.

Das funktionierte auch deshalb so gut, weil die Wirtschaft in den Anfangsjahren weniger stark von den Brüsseler Institutionen behindert wurde, die sich inzwischen zu einem bürokratischen Moloch entwickelt haben. Weil die wirtschaftliche Integration rascher vorankam als die politische, kann man sich heute des Eindrucks nicht erwehren, dass Brüssel dieses Defizit auf administrativem Wege zu beheben versucht. Das stößt in der Bevölkerung auf Unmut und trägt nicht dazu bei, die Begeisterung für Europa zu heben.

Die Vision vom einigen Europa ist gegen die europäische Geschichte gerichtet, denn gerade diese steht jener im Wege – bis heute. Gewiss, in kultureller Hinsicht hatte Europa längst zu einer Einheit gefunden. Der christlich geprägte Kontinent brachte Bewegungen hervor wie die Renaissance, in der das Individuum in Erscheinung trat, oder die Aufklärung, die Philosophie und Literatur beförderte. Und das gilt auch für die Musik. Georg Friedrich Händel wurde in Halle geboren. Er wirkte in Italien und kam zu großem Ruhm in England, wo er in Westminster begraben wurde. Es herrschte Freizügigkeit. Der Pianist Arthur Rubinstein schildert in seinen Memoiren, dass er innerhalb Europas frei reisen konnte und man ihm nur an der Grenze des Zarenreiches einen Pass abverlangte. Er schrieb: „Wer das Europa vor 1914 nicht kannte, weiß nicht, was Europa einmal war.“

Die Europäische Union – Friedenschance für den Kontinent

Doch die politische Geschichte war eine andere. Über viele Jahrhunderte war das europäische Staatensystem geprägt von Machtrivalitäten und der Suche nach deren Ausgleich. Zwischen den frühen Nationalstaaten England und Frankreich herrschte ein Dauerkonflikt. Nach der Niederlage des europäischen Eroberers Napoleon suchte der Wiener Kongress in das europäische Staatensystem ein Ruhekorsett einzuziehen. Nur mühsam überdauerte die Vorstellung eines Machtgleichgewichts das 19. Jahrhundert. Späte Staatsgründungen wie Italien und vor allem Deutschland veränderten die Lage. Nationalistische Übersteigerungen wurde im zwanzigsten Jahrhundert ideologisch begründet und schlugen in zwei verlustreichen europäischen Kriegen auf alle Völker des Kontinents zurück. Aus Europa, das einmal die Welt beeinflusst und geprägt hatte, wurde das alte Europa. Es war nicht mehr der Mittelpunkt der Welt.

Insbesondere in Deutschland tut man gut daran, sich an das schwierige Leben nach dem Zweiten Weltkrieg zu erinnern. Es war mühsam, ein anderes Land zu betreten. Enzensberger erinnert sich: „Ohne einen langwierigen bürokratischen Kampf war an eine Auslandsreise nicht zu denken. Wer eine Grenze überschreiten wollte, hatte beglaubigte Einladungsschreiben vorzulegen, Visumanträge in dreifacher Ausfertigung auszufüllen, komplizierte Devisenbestimmungen und andere Hürden zu überwinden.“ Kurzum, der Prozess der europäischen Einigung hat unseren Alltag zum Besseren verändert. Ältere erinnern sich noch, wie sie in den fünfziger Jahren überraschend im Supermarkt Waren einkaufen konnten, die sie zuvor allenfalls im teuren Feinkostladen fanden. Seinen Urlaub im europäischen Ausland verbringen zu können, kam damals in Mode und wurde zu einer Massenbewegung, die man heute für selbstverständlich hält. Auf vielen Ebenen bildete sich eine europäische Einigung heraus, die man zuvor für undenkbar gehalten hatte.

Das ökomomische Zusammenwachsen ist nicht alles

Den Anstoß zu dieser Entwicklung hatte die Wirtschaft gegeben, genauer gesagt die Römischen Verträge, die fortschrittliche Europäer 1957 schlossen. Zwar hielt man am Nationalstaat fest, aber das Ziel war, Beschränkungen abzubauen und einen Binnenmarkt zu schaffen. Dieses Konzept war deshalb so erfolgreich, weil es liberal war und auf Wettbewerb setzte. Natürlich diente der Weg über die Wirtschaft auch einem politischen Ziel: Frieden in einer europäischen Neuordnung unter dem Primat von Recht und Demokratie.

Das funktionierte auch deshalb so gut, weil die Wirtschaft in den Anfangsjahren weniger stark von den Brüsseler Institutionen behindert wurde, die sich inzwischen zu einem bürokratischen Moloch entwickelt haben. Weil die wirtschaftliche Integration rascher vorankam als die politische, kann man sich heute des Eindrucks nicht erwehren, dass Brüssel dieses Defizit auf administrativem Wege zu beheben versucht. Das stößt in der Bevölkerung auf Unmut und trägt nicht dazu bei, die Begeisterung für Europa zu heben.

Enzensberger hat sich vor einem Jahr über das „sanfte Monster Brüssel“ lustig gemacht und auch darüber, dass etwa der Europäische Rat in verschiedenen Formationen tagt, als da sind: FAC, ECOFIN, JHA, COMB, ENVI, EXC, TTE und CAP. Das ist allerdings nicht zum Lachen, und man fragt sich, wie es zu dieser Fehlentwicklung hat kommen können.

Der Geburtsfehler der EU ist die Bürokratie

Es handelt sich um einen Geburtsfehler, der nach mehr als fünfzig Jahren nur schwer zu beheben sein wird. Schon in der Debatte über die Römischen Verträge sah man die Gefahr einer übermächtigen Bürokratie der Gemeinschaften. Und resignierend stellte man fest, dass die Verträge den Parlamenten nur geringe Kompetenzen einräumten. Aber Frankreich wollte es so.

Jean Monnet, der Gründer der Montanunion, der Keimzelle der Europäischen Union, war ein entschiedener Anhänger des Korporatismus, ein eher ständestaatlicher Weg jenseits von Liberalismus und Sozialismus. Schon im Ersten Weltkrieg hatte Monnet die Wirtschaftszweige einer „Hohen Kommission“ unterstellt. Und so wurde dann auch die Kohle- und Stahlindustrie Deutschlands und Frankreichs von einer Kommission, der „Hohen Behörde“ verwaltet. Die nationalen Parlamente sollten immer mehr Vollmachten an die supranationalen Behörden in Brüssel übertragen. Von diesem Denken ist auch Italiens Präsident Mario Monti geprägt, ein früherer EU-Kommissar. Unlängst sagte er, die Parlamente behinderten die Einigung Europas und müssten an die Kandare genommen werden.

Die wichtige Rolle der nationalen Parlamente

Aber die Quelle der demokratischen Legitimation sind nach wie vor die nationalen Parlamente. Und daran können auch alle Aufwertungen des EU-Parlaments nichts ändern. Es befördert zwar den europäischen Gedanken, kann zu seinem vollen Recht aber erst kommen, wenn es aus einer direkten Europawahl hervorgeht. Doch bis dahin ist noch ein weiter Weg. Weil die Euroländer nur schwer aus der Krise herausfinden und das Vertrauen der Bevölkerung schwindet, ist von Ungeduldigen jetzt vorgeschlagen worden, die politische Union sofort nachzuholen.

Angestoßen vom SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel haben die Philosophen Jürgen Habermas und Julian Nida-Rümelin sowie der Ökonom Peter Bofinger ein Programm vorgestellt, das zwar nicht direkt auf einen europäischen Bundesstaat abzielt, das aber mehr sein soll als der bisherige Staatenverbund, von dem das Bundesverfassungsgericht spricht. Jedenfalls wird die Bundesregierung aufgerufen, einen Verfassungskonvent anzustoßen. Doch die Initiatoren sollten gewarnt sein. Schon einmal, vor gut zehn Jahren, ist ein auf den Weg gebrachter Verfassungsvertrag bei Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden gescheitert, obwohl er sich weitgehend auf Symbolisches beschränkte.

Europa ist in politischer Hinsicht ein schwieriges Gelände, die nationalen und mentalen Beharrungskräfte bleiben stark. Die Bundesrepublik ist von Verfassung wegen (Artikel 23) gehalten, an der Einheit Europas mitzuwirken. Aber dazu bedarf es vor allem der Geduld, um in Ruhe jene Probleme in den Blick zu nehmen, die den Weg zu einer politischen Union so beschwerlich machen.

Was fehlt, ist eine kollektive europäische Identität

Gewiss, in irgendeiner Form begreift man sich selbst als Europäer. Aber die Zahl derjenigen, die sich ausschließlich als Europäer verstehen, bleibt, vielleicht mit Ausnahme Luxemburgs, konstant niedrig. Das heißt, der EU mangelt es an einer Grundvoraussetzung demokratischer Herrschaft, einem europäischen demos, einer stark ausgebildeten kollektiven Identität. Zwar ist es den Einzelstaaten möglich, ihre nationale Identität mit europäischen Zielen in Einklang zu bringen, aber das ist bestenfalls ein Scheinkonsens. Tatsächlich sind Europas Staaten und Völker mit zu viel Geschichte befrachtet und zu stolz auf ihre Eigenheiten, um von heute auf morgen eine politisch integrierte europäische Gesellschaft konstituieren zu können. Sie allein wäre in der Lage, ein Bewusstsein der Zusammengehörigkeit auszubilden, welches Mehrheitsentscheidungen und auch Solidarleistungen zu tragen vermag.Schließlich fehlt der EU eine weitere Grundvoraussetzung demokratischer Herrschaft: eine demokratische Öffentlichkeit. Eine Demokratie ohne Öffentlichkeit ist letztlich genauso wenig möglich wie eine Demokratie ohne demos. Der demokratische Prozess ist weitgehend an das Vorhandensein einer gesamtgesellschaftlichen Öffentlichkeit beziehungsweise Diskursfähigkeit gebunden. Es gibt diese europäische Öffentlichkeit bisher aber nicht, allenfalls eine schwache Europäisierung nationaler Öffentlichkeiten. Anders gesagt, europäische Themen werden nicht von supranationalen Medien aus europäischem Blickwinkel, sondern von nationalen Medien mit ihrer je eigenen Sichtweise diskutiert.

Die politische Union wird nicht rasch zu verwirklichen sein

Zwar fehlt es nicht an Versuchen, mit entsprechenden Angeboten eine europäische Öffentlichkeit zu erreichen. Aber das bleiben Nischen-Ereignisse, wie das Kulturprogramm Arte als deutsch-französisches Gemeinschaftsunternehmen hinreichend belegt. Ein weiteres entscheidendes Hindernis für das Entstehen einer europäischen Öffentlichkeit ist die Sprache. Weil Europa ein vielsprachiger Kontinent ist, kann keine Kommunikationsgemeinschaft entstehen. Sprache ist immer auch Bestandteil der politischen Identität. Deshalb kann sie nicht einfach durch eine lingua franca, etwa das Englische, ersetzt werden. Der Mangel an einer einheitlichen Sprache behindert das Entstehen nicht nur europäischer Medien, sondern auch das von Parteien und Verbänden.Schon diese Befunde bieten hinreichende Gründe, von dem Versuch Abstand zu nehmen, eine politische Union rasch verwirklichen zu wollen. Nicht von ungefähr hat Jutta Limbach, die frühere Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, vor einem solchen Schritt gewarnt: „So vielversprechend ein solcher Endzustand der EU auch immer sein mag, politisch hat er weder kurz- noch mittelfristig den Hauch einer Chance.“ Sie empfiehlt, das Subsidiaritätsprinzip endlich ernst zu nehmen und die überbordende Regelungswut aus Brüssel zu bremsen. Und das kann nur heißen, die Verträge liberal auszulegen und die Einzelstaaten regeln zu lassen, was ihre Sache ist.

Das integrative Potenzial europäischer Identität liegt weniger in der Fixierung konkreter Verhältnisse als im Prozess der gemeinsamen Suche nach Identität. Europa entsteht durch Diskussion. Dabei ist auf das Geschichtliche Rücksicht zu nehmen. Als der deutsche Finanzminister unlängst die Griechen kritisierte, kanzelte ihn der griechische Staatspräsident Papoulias mit den Worten ab: „Wer ist Herr Schäuble, dass er es wagt, Griechenland zu beleidigen!“ Auch das ist Europa.