Für die Ausstellung „Alle lieben – ich auch!“ haben Studentinnen der Hochschule Esslingen mit Menschen über Intimes gesprochen, die sonst selten gehört werden.

Esslingen - Sex, so fühlt es sich an, ist heute überall. In der Werbung, in Filmen, auf den Roman-Bestsellerlisten. Meistens sind die Menschen, um die es geht, jung, schön und einigermaßen gut situiert. Aber haben alte Menschen eigentlich ein Sexualleben? Können behinderte Menschen feste Beziehungen haben? Und sind Wohnungslose immer einsam?

 

Studentinnen der Sozialen Arbeit an der Hochschule Esslingen haben sich dieser Fragen angenommen und für eine Projektarbeit mit ebensolchen Leuten gesprochen, deren Beziehungen selten auf Kinoleinwänden landen und deren Sexualleben oft tabuisiert wird: Menschen in Behindertenwohnheimen, Senioren- und Mutter-Kind-Heimen oder Zufluchtsorten für Menschen ohne festen Wohnsitz.

„Jetzt, wo er so alt ist, sprechen wir nicht mehr über Sex“

Die Ergebnisse dieser Gespräche zeigen sie in der Ausstellung „Alle lieben – ich auch!“ in der Hochschule. Großformatige Fotografien und die Geschichten ihrer Gesprächspartner erzählen gemeinsam von ganz unterschiedlichen Biografien und Sichtweisen, die aber alle denselben Nenner finden: die Liebe.

Sexualität spielt dabei oft, aber längst nicht immer eine Rolle. Bei Olga und Willi (alle Namen geändert), 1926 und 1927 geboren, zum Beispiel seit einer Weile nicht mehr. „Jetzt, wo er so alt ist“, erzählt sie, „sprechen wir nicht mehr über Sex.“ Es ist die Vertrautheit, die das Wichtige ist. Keiner der Gesprächspartner wurde gezwungen, über Intimstes zu sprechen, sagen die Studentinnen. Manche hätten einfach anders auf Fragen geantwortet, als die jungen Frauen es beabsichtigt hatten, und einen anderen Teil ihrer Geschichte erzählt. Auch bei Emma und Martin kommt das Thema Sex im Gespräch nicht vor. Die beiden, 48 und 42 Jahre alt, leben im Behindertenwohnheim und haben sich einfach „ganz arg“ gern. Für sie findet ihre Liebe im Alltag statt, beim Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel im Garten.

Überraschend viel Redebedarf

Der 99-jährige Musiker Johannes erzählt von seinen zwei Ehen. Der einen, kinderreichen, die endete, als seine Ehefrau glaubte, er würde aus der Kriegsgefangenschaft nicht mehr heimkehren, und von der zweiten, in der Johannes lernte, dass man keinen Sex braucht für eine glückliche Beziehung. „Sie war frigide, und ich war impotent. Da habe ich gedacht, wir passen gut zusammen“, sagt er.

Dass sie auf so viel Offenheit treffen würden, hätten die Studentinnen vorher allerdings nicht gedacht, sagen sie. Erstaunt waren sie auch darüber, dass die Älteren oft freier erzählt hätten als die Jungen. „In einem Pflegeheim hat man uns nach unserer Anfrage regelrecht ausgelacht“, erzählt Katharina Habla. „Da wolle doch keiner drüber reden, hieß es.“ Das Gegenteil war der Fall. „Die Menschen hatten einen unglaublichen Redebedarf“, sagt Stephanie Birnthaler.

Etwas Schönes auch bei schlechten Erfahrungen

Junge Frauen berichten von Vergewaltigungen im Kindes- oder Jugendalter, wollen diesen Teil nicht verschweigen, weil er zu ihnen gehört. Viele von ihnen sind mit den Vätern ihrer Kinder nicht mehr zusammen und halten sich an der Liebe zum Sohn oder zur Tochter fest. Diese Geschichten haben die Studentinnen erstaunt, sagt Katharina Habla. „Auch bei den Biografien mit schlechten Erfahrungen war trotzdem immer irgendetwas Schönes dabei.“

Manchmal ist es auch nur die Hoffnung darauf, dass noch etwas kommt. Ein Mittfünfziger, der im Berberdorf in Esslingen lebt, hätte gerne eine Beziehung und Kinder, kann sich das wegen seiner Wohnsituation aber im Moment nicht vorstellen: Man brauche immer auch Geld für so etwas.

Auch wenn die Umstände ungünstig sein mögen: der Wunsch nach Nähe ist bei allen da. Claudia Dunst fasst zusammen, was die Ausstellung zeigen soll: „Jeder hat ein Recht auf Liebe und Sex, egal, in welcher Lebenssituation er ist.“

Liebe, Sex und Zärtlichkeit

Projektgruppe:
Stephanie Birnthaler, Carmen Breitinger, Claudia Dunst, Katharina Habla und Kathrin Schmidt haben im siebten Semester ihres Studiums Soziale Arbeit die Ausstellung für eine Projektarbeit des Seminars „Let’s talk about Sex, Babe“ konzipiert. Geleitet wurde das Seminar von den Dozentinnen Birgit Meyer und Britta Grotwinkel.