Die Europäische Union steht spätestens mit dem Austritt Großbritanniens vor großen Herausforderungen. Ob sie darauf eine Antwort findet, davon hängt ihre Zukunft ab, kommentiert Markus Grabitz.

Korrespondenten: Markus Grabitz (mgr)

Brüssel - Wenn die Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer an diesem Donnerstag beim Gipfel in Brüssel vorfahren, gibt es eine Premiere. Erstmals tagen sie im neuen Ratsgebäude. Die Fassade des Neubaus ist ein gelungenes Symbol für die Vielfalt des europäischen Hauses: Sie besteht aus 3750 restaurierten Fensterrahmen verschiedener Größe, die in Abbruchhäusern in sämtlichen 28 EU-Mitgliedstaaten zusammengetragen worden sind. Auch Fenster aus dem Vereinigten Königreich sind darunter. Der erste Gipfel im neuen Haus dürfte wohl für lange Zeit das letzte Treffen sein, bei dem der Austritt Großbritanniens und die Folgen eben nicht das beherrschende Thema sind. In Brüssel wird damit gerechnet, dass der offizielle Brief aus London, der den Startschuss für die schwierigen Trennungsgespräche gibt, unmittelbar nach diesem Gipfel eintrifft.

 

Diesmal steht, wie jedes Mal beim Frühjahrstreffen, die Wirtschaftslage in der EU im Mittelpunkt. Und die ist einigermaßen erfreulich. Erstmals seit Langem weisen alle Volkswirtschaften der EU positive Wachstumszahlen und sinkende Arbeitslosenzahlen auf. Bei allen wirtschaftlichen Problemen etwa in Griechenland, das sich mit den fälligen Strukturreformen immer noch sehr schwer tut, oder in Italien, dessen Finanzsektor unter faulen Krediten leidet, ist dies eine gute Nachricht.

Warschau verweigert Tusk die Wiederwahl als Ratspräsident

Aufmunterung können die Regierungschefs auch gut gebrauchen. Denn wieder einmal wird bei ihrem Treffen deutlich, dass das Bündnis unter Quertreibern leidet. Die Regierung aus Polen blamiert sich selbst und die EU mit einem bislang auf europäischer Bühne nicht da gewesenen Trauerspiel: Warschau verweigert dem polnischen EU-Ratspräsidenten Donald Tusk, der sich zur Wiederwahl stellt, die Unterstützung. Und schickt mit dem polnischen EU-Abgeordneten Jacek Saryusz-Wolski einen ebenso unqualifizierten wie chancenlosen Gegenkandidaten ins Rennen. Dabei ist ein ungeschriebenes Gesetz, dass nur ehemalige Staats- und Regierungschefs für das Amt infrage kommen. Da die Entscheidung nicht einstimmig erfolgen muss und Amtsinhaber Tusk breite Unterstützung genießt, dürfte seine Wahl ohne Komplikationen ablaufen. Peinlich wird es aber dennoch, wenn ihm ausgerechnet sein Heimatland aus innenpolitischen Gründen die Unterstützung verwehrt.

Beim Gipfel in Brüssel geht es zudem um die Zukunft Europas. Am zweiten Gipfeltag wollen die Regierungschefs überlegen, wohin die Reise gehen soll, wenn Großbritannien austritt. Ende März, wenn in der italienischen Hauptstadt der 60. Geburtstag der EU gefeiert wird, soll es dann konkreter werden. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker hatte kürzlich schon fünf Zukunftsszenarien vorgeschlagen. Sie reichen von einem „Weiter so“, über den Rückbau zur Zollunion bis hin zur Variante „Vollgas geben“.

Generalreform der EU wäre nicht sinnvoll

Schon jetzt ist klar, dass es keine Generalreform der EU geben wird. Das wäre auch nicht sinnvoll. Für eine Generalreform wäre eine Änderung der EU-Verträge nötig. Und in vielen Ländern müsste dafür das Volk befragt werden. Nach den einschlägigen Erfahrungen mit gescheiterten Referenden in den Niederlanden, Frankreich und Dänemark kann es darauf aber kein Pro-Europäer anlegen. Die bessere Variante ist, auf Basis der bestehenden Verträge weiterzumachen. Klar ist aber, dass die EU besser werden muss. Der Weg, den EU-Kommissionspräsident Juncker vorgegeben hat, ist richtig: nicht so sehr kleinteilig in Politikbereiche der Nationalstaaten hineinregieren, sondern das große Rad drehen. Bei Grenzsicherung, Asylpolitik und Verteidigungspolitik sind erste ermutigende Ansätze gemacht. Auf anderen Feldern bleibt viel zu tun. Etwa in der Währungsunion. Da müssen dringend unterschiedliche Ansätze in der Wirtschafts- und Finanzpolitik zusammengeführt werden.