Am Samstag lädt Aserbaidschan die Europäer zur größten Popshow des Jahres ein. Das Land nutzt seine Chance, sich weltoffener zu präsentieren, als es tatsächlich ist.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Baku - Endlich: der schönste Abend des Jahres! Jedenfalls für alle Grand Prix-Fans. In Baku, der Hauptstadt Aserbaidschans, gehen am Abend beim Eurovision Song Contest 26 Länder ins Rennen. Und die beiden Halbfinale am Dienstag und Donnerstag haben es schon gezeigt: Auch ganz fern im Osten Groß-Europas weiß man, gute Shows zu produzieren. Die Zuschauer dürfen sich auf viele schöne Bilder in spektakulärer Kulisse und ein fröhlich feierndes Publikum freuen. Und die Kommentatoren der ARD werden es sicher nicht versäumen, auch wieder angemessen kritisch auf die politischen Umstände im Gastgeberland hinzuweisen.

 

Im Mittelpunkt der Show steht aber die Musik. Wenig geübte Grand Prix-Zuschauer behaupten ja gern, die Beiträge würden sich doch eh’ alle gleich anhören; sie wüssten gar nicht, wonach sie da entscheiden sollten. Aber das ist natürlich Unsinn. Auch am Samstagabend wird es wieder einen wilden Mix ganz unterschiedlicher Musikstile und Inszenierungen geben. Hier ein kleiner Überblick über die wichtigsten Kategorien.

Die Spannbreite der Stile ist groß

Pop klassisch In diesem Jahr versuchen es erstaunlich viele Länder mit ganz internationalem Sound. Die große Favoritin ist dabei Loreen aus Schweden, die aber aufpassen muss, bei der Liveperformance ihres rhythmisch und harmonisch sehr anspruchsvollen Songs den rechten Takt und Ton zu finden. Überraschend unfranzösisch kommt auch Anggun aus Frankreich daher; in „Echo“ singt sie – quelle spectacle! – sogar zeitweise Englisch. Zum Geheimtipp hat sich aber die ungarische Männertruppe Compact Disco entwickelt. Ihr Titel geht gut uns Ohr, ohne platt zu wirken.

Herausragend in diesem Feld ist jedoch Nina Zilli aus Italien. Am Anfang ihres Beitrags „L’Amore E Femmina“ denkt man zwar, es klingt schon ein wenig arg nach Amy Winehouse, aber im Verlauf der drei Minuten erweist sich ihr Song als makelloses kleines cooles Meisterstück.

Folk Pop Von den Osteuropäern kommt in diesem Jahr erstaunlich wenig landsmannschaftlich Gefärbtes. Was aber kommt, ist absolut hochrangig: Der serbische Popstar Zeljko Joksimovic liefert mit „Nije Ljubav Stvar" einen rechten Ohrwurm, während Pasha Perfany aus Moldawien mit „Lautar“ so richtig schön im Balkantrompetensound das Tanzbein reizt.

Song Only Seit einigen Jahren beim Grand Prix groß im Kommen als Kontrast zu den immer spektakulärer inszenierten Großtiteln: der betont auf schlicht getrimmte Vortrag ohne viel Trara, einfach nur ein kleines Lied. Gerade so geht für Großbritannien Altstar Engelbert ins Rennen („Love will set you free“), ganz unprätentiös zur Gitarre, während die Bosnierin Maya Sar nicht viel mehr als ein Klavier braucht. Übrigens schon bemerkt? Viele Länder kehren zurück zu Liedern in ihrer Landessprache. So hält es der junge und absolut stimmstarke Ott Lepland aus Estland: „Kuula“ ist unser ganz persönlicher StZ-Grandprix-Fachressort-Herzensfavorit.

Hupfdohlen sind im Niedergang

Ballade Die klassische, emotional etwas ausladende Grand-Prix-Form wird in Baku vom Gastgeber selbst bedient (Sabina Babayeva mit „When the Music dies“) und von Pastora Soler aus Spanien („Stay with me“). An Letzterem ist vor allem eines bemerkenswert: Jahrelang begnügte sich Spanien, das als einer der Hauptgeldgeber für den Grand Prix automatisch für das Finale gesetzt ist, zumeist einfach Witztitel zu verschicken. Nun zeigt Madrid immerhin mal wieder Engagement und Siegeswillen.

Hupfdohlen Seit einigen Jahren eigentlich im Niedergang begriffen, von Griechenland und Zypern aber unverdrossen auch diesmal bedient: dumpfe Mitklatsch-Lieder, über deren Mittelmaß allerlei leicht bekleidete Tänzer oder Tänzerinnen im Hintergrund mit ihrer Gymnastik hinwegtäuschen sollen. Die Auftritte von Ivi Adamou und Eleftheria Eleftheriou den Startplätzen 8 und 16 eignen sich darum hervorragend, um aus der Küche Nachschub an kalten Getränken zu holen. Leider in diesem Jahr auf gleichem Niveau: Irland. In Düsseldorf 2011 waren die Jedward-Zwillinge ein echter Hingucker. Ihr diesjähriger Titel „Waterline“ aber nervt, weil das ewige Gezappel und die Special Effects nur über die Schlichtheit des Songs hinwegtäuschen sollen.

Nationale Begeisterung

Theater Wenn acht russische Großmütter als Buranovo Grannies auf der Bühne tanzen und Kekse backen oder der junge Litauer Donny Montell mit verbundenen Augen singt, aber gleich darauf Purzelbaum schlägt („Love is Blind“), dann gehört das alles mehr in die Abteilung Darstellendes Spiel. Auch der Türke Can Bonomo zählt heuer mit „Love me Back“ dazu. Was dieser seltsame Matrosenaufzug und die Schiffspantomime mit dem dazu vorgetragenen wirren Song zu tun haben – keine Ahnung.

Kunst Diese Kategorie bleibt in manchen Grand Prix-Jahren unbesetzt. Aber in Baku wird sie absolut würdig vertreten – von der Albanerin Rona Nishliu. Sie sieht ein bisschen aus wie Maria Callas in alten Pasolini-Filmen. Und den Titel „Suus“ kann man aufgrund seiner absolut gewagten Stimmführung (Vorsicht, Glasbruchgefahr!) nur entweder hemmungslos hassen oder atemlos bestaunen.

Und wie passt unser deutscher Vertreter Roman Lob in dieses Schema? Offen gestanden, wir wissen es nicht. Der Titel selbst („Standing Still“) scheint uns im überregionalen Vergleich eher vernachlässigenswert. Aber ein gewisser Rehaugeneffekt ist nicht auszuschließen. Drücken wir einfach die Daumen. Denn ein bisschen nationale Begeisterung ist beim Grand Prix in jedem Jahr unbedingt erlaubt.