Evangelische Kirche in Böblingen Stimmungsmacher für den Aufbruch

Jens Heß in „seiner“ Martin-Luther-Kirche in Böblingen. Foto: Eibner-Pressefoto/Roger Bürke

Jens Heß ist der neue Vorsitzende des evangelischen Gesamtkirchengemeinderats in Böblingen. Seine Wahl fällt in eine aufwühlende Zeit. Doch den 51-Jährigen schreckt das nicht – im Gegenteil. Der Mann, der spät zum Glauben fand, hat eine klare Haltung.

Im Gespräch wird schnell klar: Jens Heß ist ein Mensch, der nach vorne schaut. Der gerne Impulse gibt und seine Mitstreiter motivieren will. „Ich sehe Veränderungen immer als Chance“, betont der 51-Jährige. Diese Eigenschaften wird er in nächster Zeit gut brauchen können. Denn seit vier Wochen führt Heß den evangelischen Gesamtkirchengemeinderat in Böblingen an. Und in dieser Funktion muss er einen großen Veränderungsprozess begleiten, moderieren und positiv gestalten.

 

In Böblingen werden die vier evangelischen Kirchengemeinden – Stadtkirche, Paul-Gerhardt-, Martin-Luther- und Christuskirchengemeinde – auf 1. Januar 2025 fusionieren. Zahlreiche Kirchenaustritte, weniger Pfarrer und eine düstere finanzielle Perspektive zwingen die Verantwortlichen zu diesem Schritt. Für viele Gläubige, die an ihrer Heimatgemeinde hängen, ist das ein schmerzhafter Prozess – und doch sehen die meisten wohl ein, dass er notwendig ist.

Düstere Aussichten

2012 gab es in Böblingen noch 12 200 Gemeindeglieder, aktuell sind es 8900. „Es wird leider erwartet, dass die Zahl bis 2030 um weitere 30 Prozent sinkt“, sagt Jens Heß. Auch die Pfarrstellen werden bis dahin auf drei reduziert, vier verschiedene Gemeinden machen dann keinen Sinn mehr.

Die Fusion beschäftigt die Kirchengemeinden nicht nur emotional, sie ist auch organisatorisch kompliziert. Am kommenden Mittwoch wird der Vorgang in einer Gemeindeversammlung öffentlich erläutert, danach müssen die vier Kirchengemeinderäte die Fusion offiziell beschließen und sie bis 30. Juni beim Oberkirchenrat beantragen. Paradoxerweise muss dann der Gesamtkirchengemeinderat aufgelöst werden, weil er als Dachgremium keine Daseinsberechtigung mehr hat.

Im Januar gehen alle vier Räte mit aktuell 47 Mitgliedern in einem neuen Gremium auf und werden Jens Heß aller Voraussicht nach erneut zu ihrem Vorsitzenden bestimmen. Erst mit der ordentlichen Kirchengemeinderatswahl Ende 2025 kann der neue und alleinige Böblinger Kirchengemeinderat auf eine vernünftige Größe reduziert werden – im Gespräch sind 12 oder 16 Mitglieder. „Das ist viel Arbeit, und wir sind in nächster Zeit ausschließlich mit der Fusion beschäftigt“, betont Heß – und meint damit auch: Mit einem weiteren drängenden Thema können sich die Böblinger Protestanten erst im kommenden Jahr beschäftigen: der Zukunft der Immobilien.

Wird die Martin-Luther-Kirche aufgegeben?

Denn wenn die Zahl der Gläubigen und der Gemeinden schrumpft, liegt auf der Hand, dass die Kirche sich auch von Gebäuden trennen muss. Und zwar nicht nur von Gemeindehäusern. Wird eine der vier Kirchen aufgegeben – womöglich die Martin-Luther-Kirche, Heß’ Glaubensheimat? „Dazu lässt sich wirklich im Moment noch nichts Konkretes sagen“, sagt der neue Vorsitzende.

Die Oikos-Studie der Landeskirche, die den Böblinger Gebäudebestand unter die Lupe genommen hat, soll in nächster Zeit Aufschluss geben. Aber ernsthaft mit dem Thema befassen wollen sich Heß und seine Mitstreiter frühestens 2025 – im Gespräch mit allen Beteiligten. „So etwas braucht seine Zeit und seinen Raum.“ Heß will sich also nicht festlegen, sagt aber grundsätzlich: „Ich glaube nicht, dass wir in Zukunft noch vier Kirchen bespielen können.“

Auf die Taufe folgt die Heirat

Dass Jens Heß jetzt viel Verantwortung in der evangelischen Kirche übernimmt, ist umso bemerkenswerter, als er erst sehr spät zum Glauben kam. Einen großen Anteil hatte seine Frau Helgard Rebmann. „Ich wurde erst 2002 in der Martin-Luther-Kirche getauft, kurz danach haben wir geheiratet“, berichtet Heß. Inzwischen sind auch die drei Kinder alle konfirmiert, die Familie engagiert sich in der Gemeinde. 2019 ließ sich Jens Heß zum Vorsitzenden des Kirchengemeinderats der Luther-Kirche wählen. „Es gibt immer weniger ehrenamtliches Engagement“, findet er, „da darf man nicht nur zuschauen, sondern muss selbst anpacken.“

Kurz nach seiner Wahl begann die Corona-Pandemie, die Kirchen wurden geschlossen. „Eine ganz schwierige Zeit“, erinnert sich der 51-Jährige, „da war Krisenmanagement gefragt.“ Und Heß bewährte sich in dieser bedrückenden Phase. Als Gudrun Seidenspinner zuletzt aus persönlichen Gründen den Vorsitz des Gesamtkirchengemeinderats aufgeben wollte, fragte Dekan Markus Frasch bei Jens Heß an – mit Erfolg. „Ich kann ziemlich direkt sein, bin offen und ehrlich, aber eben auch positiv“, sagt der neue Vorsitzende. Charakterzüge, die der Dekan offenbar schätzt – gerade im Angesicht der anstehenden Herausforderungen.

Neue Formate ausprobieren

Denn mit Fusion und Gebäudemanagement ist es noch nicht getan. „Die Kirche muss ihre Angebote verändern“, findet Jens Heß. Er könne diejenigen verstehen, die ein traditionelles Angebot mit klassischen Gottesdiensten mögen, „aber wir sollten auch neue Wege gehen.“ Man müsse andere Formate wagen wie Late-Night-Gottesdienste oder Gesprächsformate in der Kirche, um ein neues Publikum zu erreichen. „Das kann nicht immer alles gleich funktionieren, aber man muss es ausprobieren.“

Sein Ziel sei, eine Aufbruchstimmung in Böblingen zu erzeugen, sagt Heß. „Ich sehe viele Chancen. Und ich hoffe, dass ich davon auch andere überzeugen kann.“

Geschichte und Zukunft

Biografie
Der Name Heß ist im Landkreis Böblingen wohlbekannt. Tatsächlich ist Karl Heß (1911-1997), von 1953 bis 1973 Böblinger Landrat, der Großvater von Jens Heß. Dieser wurde 1972 in Waiblingen geboren, 1979 zog die Familie nach Böblingen. Jens Heß besuchte das Otto-Hahn-Gymnasium, wo er 1993 sein Abitur absolvierte. Seit Februar 2018 gehört er dem Kirchengemeinderat der Martin-Luther-Gemeinde an, seit 2019 ist er Vorsitzender. Am 6. März 2024 wurde er zum Vorsitzenden des Gesamtkirchengemeinderats gewählt. Er ist verheiratet und hat drei Kinder. Beruflich ist er Geschäftsführer einer IT-Firma in Stuttgart.

Versammlung
 Am kommenden Mittwoch, 10. April, um 19 Uhr findet im Haus der Begegnung (Berliner Straße 39) in Böblingen eine Gemeindeversammlung stattfinden. Dort werden die Fusionspläne vorgestellt und ausführlich besprochen.

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