Die Zweifel sind passé: Sami Khedira gilt jetzt als Alleskönner im Mittelfeld. Vor dem Halbfinale der deutschen Nationalmannschaft gegen Italien lautet die Frage eher: Gibt es bei dieser EM in Polen und der Ukraine überhaupt einen, der noch besser ist als der Ex-VfB-Profi?

Stuttgart - Joachim Löw wundert sich sehr über diese Frage, er kann sie kaum glauben. In Südfrankreich sitzt er im Nebenzimmer eines Hotels, zwei Wochen sind es noch bis Europameisterschaft, und soeben hat der Bundestrainer ausgiebig darüber referiert, dass ein moderner Mittelfeldspieler in der Offensive genauso stark sein müsse wie in der Defensive. Ob Sami Khedira so ein Spieler sei, wird der Bundestrainer dann gefragt. „Er verstehe diese Frage nicht ganz“, sagt Löw, „wenn es nicht so wäre, dann würde er doch nicht bei Real Madrid spielen, sondern in Bergen-Enkheim oder beim SV Bonlanden.“

 

Inzwischen fragt niemand mehr, ob Sami Khedira einer dieser geforderten Alleskönner im Mittelfeld ist. Vor dem Halbfinale der deutschen Nationalmannschaft gegen Italien lautet die Frage eher: Gibt es bei dieser EM in Polen und der Ukraine überhaupt einen, der noch besser ist?

Eine der prägenden Figuren des Turniers

Khedira (25), in Fellbach-Oeffingen aufgewachsen und beim VfB Stuttgart ausgebildet, ist eine der prägenden Figuren des ganzen Turniers. Vorzügliche Leistungen hat er in den drei Gruppenspielen gegen Portugal (1:0), die Niederlande (2:1) und Dänemark (2:1) geboten, überragend war er beim 4:2 im Viertelfinale gegen Griechenland. Er ist zum großen Anführer der DFB-Auswahl geworden – er ist dabei, sich endgültig zu einem Weltstar zu entwickeln. Und es gibt inzwischen keinen mehr, der behaupten würde, das Glamouröseste an ihm sei seine Verlobte, das Model Lena Gercke, wie es eine Nachrichtenagentur neulich geschrieben hat.

Im Anschluss an die Weltmeisterschaft 2010 wechselte der Mittelfeldspieler nach Spanien und wurde Stammspieler, was vielleicht bei keinem Club so schwierig ist wie bei Real Madrid. Die ganz große Anerkennung des Publikums, das die Offensivkünstler liebt, blieb Khedira bisher trotzdem verwehrt, weil er sich im Auftrag des Trainers José Mourinho fast ausschließlich um die Defensivarbeit zu kümmern hat. In der Nationalmannschaft hingegen darf er nun sein ganzes Repertoire zur Geltung bringen, hier ist „meine Rolle ein bisschen freizügiger angelegt“. Mourinho war es, der seinen Schützling dieser Tage als einen der besten Spieler der EM adelte.

Dynamik, Wucht, Präsenz

Khedira muss in der DFB-Auswahl nicht nur hinten die Bälle abfangen und brav zum Nebenmann weiterleiten; er darf sie auch nach vorne tragen, wovon er regelmäßig Gebrauch macht. Mit seiner Dynamik, seiner Wucht und seiner Präsenz hat er wie selbstverständlich das Kommando im Mittelfeld über- und damit jene Rolle eingenommen, die bei der WM vor zwei Jahren noch Bastian Schweinsteiger hatte.

Der Adjutant war Khedira damals noch, der nur deshalb ins Team gekommen war, weil sich Michael Ballack kurz vor dem Turnier verletzt hatte. Nun ist er der Chef, dem es zu verdanken ist, dass die  großen körperlichen Probleme, mit denen sich Schweinsteiger herumplagt, bisher keine Konsequenzen hatten. Khedira sei „eine Führungspersönlichkeit geworden“, es sei „gut für die anderen, dass er da ist“, hat Joachim Löw nach dem Sieg gegen Griechenland über Khedira gesagt. „Die anderen“ hat er nicht näher benannt. Aber es war klar, dass nicht nur die jungen Spieler gemeint waren, sondern auch Bastian Schweinsteiger, der Chef außer Dienst.

Fundamental wichtiges Tor

Khediras Treffer zum 2:1 illustrierte auf besonders eindrucksvolle Weise seine Fähigkeit, gerade in schwierigen Situationen Verantwortung zu übernehmen. Kurz zuvor hatten die Griechen den Ausgleich erzielt – und Khedira spürte, wie die unerfahrenen Marco Reus oder André Schürrle „ins Grübeln“ gekommen seien. Er selbst jedoch wusste, „es wird nichts passieren“ – er drang in den Strafraum ein und drosch den Ball volley unter die Latte. Von da an lief alles wieder wie von alleine.

Es war ein fundamental wichtiges Tor, genau wie sein Führungstreffer beim 2:1 neulich gegen den FC Barcelona, der Real die Spanische Meisterschaft beschert hat. „Warum trifft ausgerechnet Khedira?“, schrieb anderntags eine spanische Zeitung, als stünde ihm so etwas nicht zu. Ein Zufall war aber auch dieser Treffer nicht. „Wer genauer hinschaut“, sagt Khedira, „der weiß, dass ich in wichtigen Spielen immer mal wieder ein Tor geschossen habe.“ Als 17-Jähriger führte er die B-Jugend des VfB mit einem Tor im Endspiel gegen Energie Cottbus zur Deutschen Meisterschaft; gerade 20 war er geworden, als er bei den Profis im letzten Saisonspiel den 2:1-Siegtreffer gegen Cottbus köpfte und der VfB Meister wurde.

„Wie mache ich das denn jetzt?“

Er habe „schon immer den Drang in mir gehabt, vorneweg zu marschieren“, sagt Khedira. In der Jugend des VfB hat er das getan, bei den Profis – und bei der U-21-Europameisterschaft 2009 schließlich auch beim DFB. Kurz vor dem Turnier war er von dem neuen Trainer Horst Hrubesch zum Kapitän ernannt worden und hatte den Auftrag erhalten, die bunt zusammengewürfelte Mannschaft zu führen. „Dann stehst du da, bist plötzlich Kapitän und denkst: Wie mache ich das denn jetzt?“

In Abwesenheit des Trainers hielt Khedira vor dem ersten Spiel eine Rede vor der Mannschaft. Schwierige Charaktere wie Patrick Ebert oder Ashkan

Dejagah waren darunter, er forderte sie dazu auf, den gemeinsamen Weg mitzugehen. Am Anfang hätten noch einige gelacht über die Ansagen des Kapitäns, sagt Khedira. Am Ende lachte niemand mehr über ihn – am Ende war das deutsche Team Europameister, nachdem es im Halbfinale Italien und im Endspiel England besiegt hatte. Es war der Moment, in dem sich Khedira gedacht hat: „Du kannst ein wichtiger Spieler in einer ganz großen Mannschaft werden.“

Guter Teamgeist

Wenn nun bei der EM in Polen und der Ukraine alle den guten Teamgeist in der deutschen Auswahl loben, dann kann man sich gut vorstellen, dass auch diesmal Khedira mit dafür verantwortlich ist. Sieben Spieler aus der U-21-Europameistermannschaft stehen im Aufgebot, neben Khedira der Torwart Manuel Neuer sowie Mesut Özil, Jérôme Boateng, Mats Hummels, Benedikt Höwedes und Marcel Schmelzer.

„Es war schon von klein auf Samis große Stärke, andere Spieler mitzureißen“, sagt Thomas Albeck, der Leiter des Nachwuchszentrums des VfB, der Khedira mit acht Jahren in die Jugendabteilung des Bundesligisten geholt hat. „Herausragende spielerische Qualitäten“ und „ausgeprägtes strategisches Denken“ hätten den Jugendspieler ausgezeichnet – daneben aber vor allem eine große Persönlichkeit. Albeck kann sich an keine Situation erinnern, in der er den Jugendlichen hätte antreiben müssen. Als Zeichen eines „guten Elternhauses“ wertet er das. Khediras tunesischer Vater und seine deutsche Mutter, die den Sohn auch jetzt zu den EM-Spielen begleiten, „haben ihn zu jeder Zeit am Boden gehalten“. Und sie haben ihn wieder aufgebaut, als er wegen einer schweren Knieverletzung fast ein Jahr pausieren musste und ihn die Ärzte schon darauf vorbereitet hatten, mit dem Leistungssport aufzuhören.

Eine tolle Bestätigung

Natürlich schaut sich auch Thomas Albeck in diesen Tagen im Fernsehen die deutschen Spiele an. Er freut sich mit Mario Gomez und Sami Khedira, die die VfB-Schule durchlaufen haben: „Da geht einem das Herz auf. Es ist eine tolle Bestätigung, dass man dazu beitragen konnte, dass sie jetzt so erfolgreich sind und auch noch so vorbildlich auftreten.“

Und wenn ihn sein Gespür nicht trügt, dann könnte es sein, dass schon bald ein weiterer seiner Schützlinge hinzukommt: Sami Khediras kleiner Bruder Rani (18), der beim VfB in der neuen Saison an die Profimannschaft herangeführt werden soll und bei der EM auf der Tribüne mitfiebert. „Er ist ein genaues Abbild von Sami“, sagt Thomas Albeck: „Er hat genau die gleiche Karriere wie sein Bruder vor sich.“