Exklusive Einblicke in den Rilke-Nachlass Der Schatz der Silberseele

Hat keinen Zentimeter verschwendet: Rainer Maria Rilke. Hier ein Notizbuch aus seinem Nachlass, der derzeit ausgewertet wird. Foto: Stuttgarter Zeitung Magazin/Constantin Mirbach

Rainer Maria Rilke ist einer der bedeutendsten Dichter der Moderne. Kürzlich hat das Deutsche Literaturarchiv in Marbach seinen Nachlass gekauft. Derzeit wird der Schatz ausgewertet. Das Stuttgarter Zeitung Magazin liefert erste exklusive Einblicke.

Die Reise zum Mittelpunkt der Erde führt über orangefarbene und erbsgrüne Teppiche. Immer tiefer geht es hinein ins Deutsche Literaturarchiv, kurz DLA, in Marbach, das in einigen seiner vielen, vielen Ecken großzügig das Aroma der sprichwörtlich alten Bundesrepublik atmet. Man würde sich nicht allzu sehr wundern, wenn hinterm Regal plötzlich Heinrich Böll und Günter Grass stehen und freundlich grüßen würden.

 

Um Böll und Grass soll es an dieser Stelle aber nicht gehen, und auch nicht um Franz Kafka, mit dem wir heute, Achtung, Wortspiel, kurzen Prozess machen: Seine Schätze werden – in einem Tresor lagernd – beim Gang durch die Korridore rechts liegen gelassen. Heute soll es stattdessen tief hinein gehen ins Leben und Werk von Rainer Maria Rilke, eigentlich René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke, geboren 1875 in Prag, gestorben 1926 in Valmont bei Montreux.

Der Nachlass wird gefeiert und gesichtet

Sein Nachlass wird seit Kurzem in Marbach gesichtet und erfasst. Und auch immer noch ein bisschen gefeiert. „Es ist eine kleine Sensation“, hatte Kulturstaatsministerin Claudia Roth zum Rilke-Schatz gesagt, als dessen Erwerb aus dem Privatbesitz seiner Nachkommen im vergangenen Dezember bekannt wurde. Sandra Richter, die Leiterin des DLA, setzte noch einen drauf und nannte die Nachlasserwerbung „eine der wichtigsten in der Geschichte der Deutschen Schillergesellschaft: Das Rilke-Archiv Gernsbach ist ein Jahrhunderterwerb“.

Die Freude konnten offenbar auch die nachvollziehen, die Rilke bislang vor allem als den in Erinnerung hatten, dessen „Panther“ sie in der Schule auswendig lernen mussten: „Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe / So müd geworden, daß er nichts mehr hält.“ Rilke, Österreicher von Geburt, wird als einer der bedeutendsten deutschsprachigen Lyriker der Moderne immer noch allseits gelesen, zitiert und studiert.

Der Superlativ in Zahlen: Insgesamt mehr als 10 000 handschriftliche Seiten mit Notizen, etwa 8800 Briefe, 2500 von ihm und rund 6300 an ihn, unter anderem von und an Stefan George, Hugo von Hofmannsthal, Stefan Zweig und andere, nicht ganz unbedeutende Geistesgrößen. Dazu über 470 Bücher und Zeitschriften aus seiner Bibliothek, 131 bisher unbekannte Zeichnungen und etwa 360 Fotografien. Ausgewählte Dokumente sollen uns bei diesem Besuch zum ersten Mal gezeigt werden.

Aber ehe es so weit ist, geht es erst mal unzählige Gänge und Stufen in die Tiefe, im Windschatten von Sandra Richter, der man kaum folgen kann, so schnell ist sie. Nicht nur gedanklich, während man selbst schon hinter der vierten Tür so langsam den Überblick verloren hat. Wie viele unliebsame Literaturkritiker hier unten wohl schon zurückgelassen und im Regal einsortiert wurden?

Munteres Gedanken-Pingpong

Und dann, endlich, die Dokumente. In einem fensterlosen Raum, genauso, wie man sich als Amateur die Arbeitsplätze tapferer Archivare vorstellt, die in tageslichtfreier Eremitage den Nachlass sichten. Stimmt nicht ganz, erklärt Ulrich von Bülow, Leiter der Abteilung Archiv, der – Enttäuschung – gar keine weißen Handschuhe trägt. Denn die kommen an dieser Stelle fast nur dann zum Einsatz, wenn sich das Fernsehen angemeldet hat.

In diesem Raum wird der Dokumentenschatz gesammelt. Ausgewertet wird er allerdings an den Arbeitsplätzen. „Wir haben eine große Rilke-Gruppe, in der wir miteinander versuchen, die Dinge zu verstehen und einzuordnen, neue Fragen zu stellen. Das ist eine große intellektuelle Freude“, erklärt Richter und startet gleich ein munteres Gedanken-Pingpong mit von Bülow.

Es geht um die ewig junge Frage: Was sagt der Nachlass eines Dichters über sein Werk aus und über den Menschen, der nicht mehr selbst Rede und Antwort stehen kann? Spoiler: Einiges. „Der Rilke, den wir durch den Nachlass kennenlernen, ist ein ganz neuer. Er begreift die Briefe als Teil seines Werks und schreibt oft aus der Korrespondenz heraus. Dann entsteht ein Gedicht auf einen Teekessel oder für eine Hochzeit“, sagt Richter, und von Bülow ergänzt: „Er führte Zwiesprache mit seinem Publikum und war wie jeder Briefschreiber ein Meister des Entschuldigens, wenn sich seine Antwort verzögert hatte.“

Apropos Verzögerung: Monatelang musste das DLA-Team um Richter sein Tagwerk mit einem lediglich inneren Lächeln bestreiten, weil man die Rilke-Erwerbung noch nicht nach außen verraten durfte, ehe die nötigen finanziellen Mittel – über den Kaufpreis wurde Stillschweigen vereinbart – eingesammelt waren. Nun ist die Freude greifbar, etwa wenn Richter in einem Notizbuch Rilkes eine getrocknete Blume entdeckt oder das Expertenteam ein großartiges, unbekanntes Zitat entdeckt, wie diesen Satz aus den Entwürfen zur 9. Duineser Elegie aus dem Jahr 1922: „Mitten im Hingang hats keine andere Zuflucht als Dein verwandelndes Herz, um dort unsichtbar zu sein.“

Schnitzeljagd auf Rilkes Spuren

Das öffentliche Echo auf den Erwerb des Rilke-Nachlasses war ausgesprochen positiv. Woran liegt das wohl? „Seine Texte richten sich immer an das Individuum, auch wenn sie zum Teil sehr hermetisch wirken. Rilke wollte der Dichter der Seele sein“, sagt Richter. „Er hat Wendungen geprägt, die oft zitiert werden, wie ,Du musst Dein Leben ändern‘ oder ,Überstehn ist alles‘“, ergänzt von Bülow. Dass die Allgegenwärtigkeit von Rilke-Aphorismen auch zu einem gewissen Rilke-Kitsch geführt hat, der sich besonders schmerzhaft in Vertonungen der Gedichte durch Xavier Naidoo und andere zeigt, lässt am Ende nur auf ein altes Phänomen schließen: Man kann sich seine Fans genauso wenig aussuchen wie seine Familie.

Weiter geht die Schnitzeljagd, hinein in die nächste Abteilung, wo bereits Laura Marie Pohlmann wartet, die Referentin Erschließung der Abteilung Bibliothek. Hier geht es um die Bücher aus Rilkes Nachlass, deren Zahl im Vergleich eher überschaubar ist. „Rilke war ein großer Leser auf der Suche nach Orientierung in einer immer komplizierteren Welt“, sagt Sandra Richter, aber: „Der Bibliotheksbestand ist klein. Er hatte nur zweimal im Leben einen festen Wohnsitz, einmal mit seiner Frau Clara Rilke und einmal in seinen letzten Lebensjahren. Dementsprechend hatte er nie den Platz für Bücher“, ergänzt Pohlmann.

Die Archivarin hat einige Exponate auf einen Tisch drapiert, darunter Reiseführer, Schulbücher und Literarisches. „In den Gedichtbänden hat er kaum etwas angestrichen, das ist auffällig. Ich nehme an, dass das seine Haltung zum Gedicht als Ausdrucksform ist. Die Fachwissenschaften hat er dagegen sehr auseinandergenommen“, sagt Pohlmann.

Mit einem Beispiel macht sie Lust auf Urlaub: „In diesem Italienreiseführer haben wir eine Karte, die annotiert ist. Rilke hat einen Winter lang in Rom gelebt, in der Villa Strohl-Fern, teilweise zusammen mit seiner Frau. Er hat auf der Karte den Weg zu seiner Unterkunft und zum Vatikan eingezeichnet.“ Außerdem in geschwungenem Rot zu lesen: „Haltestelle der Elektrischen“, der Streckenverlauf in Pfeilchen eingezeichnet. Anschließend wird es kurz fies, denn auch die Mathematik-Hausaufgaben des jungen Rilke werden hier ein zweites Mal kontrolliert. Kühne Vermutung: War der Dichter sprachlich begabter als in Mathe?

Hätte auch Mathe studieren können

So einfach ist die Welt dann auch wieder nicht, grätscht Richter streng dazwischen: „Weil ihn Mathematik und Physik fasziniert haben, hat er auch überlegt, diese beiden Fächer zu studieren.“ Dann schlägt sie ein Buch von Eduard von Keyserling auf: „Hier geht es um eine Stelle, in der er schreibt: ,Wo der Mensch souverän geworden ist, verlieren die Ideale an Macht.‘ Rilke kommentiert: ,Weiß Gott, wie sehr das Gegenteil der Fall ist.‘ Da gibt es noch nichts dazu, das ist fantastisch“, sagt Richter, deren lange Locken in manchen Momenten wie ein Blickschutz wirken. Als wolle sie mitten im Rilke-Faszinosum signalisieren, dass der oberirdische Besuch sie nun bitte nicht weiter vom Studium abhalten möge.

Aber so weit sind wir noch nicht ganz. Weiter geht’s zur nächsten und letzten Rilke-Station, zu Rosemarie Kutschis, zuständig für die Erschließung und Benutzung von Bildern und Objekten. Auf dem wieder recht verschlungenen Weg dorthin stellen wir kurz die Frage an Sandra Richter, wie man einen solchen Schatz eigentlich transportiert, damit er unterwegs nicht zerstört wird. „Der Nachlass kam in mehreren Fuhren, weil jede separat versichert werden musste. Unser Fahrer war früher bei der Polizei, er fährt vorsichtig.“

Bildbearbeitung vor Photoshop

Wir sind beruhigt und ergötzen uns zum Finale an den Fotos und Zeichnungen. Rosemarie Kutschis hat die Objekte am Vorabend erstmals gesichtet und eine kleine Auswahl vorbereitet. „Es sind einerseits Kinder- und Jugendfotos, die man bisher noch nicht kannte, andererseits ikonische Bilder, von denen wir jetzt das Original besitzen.“

Was auffällt: Aus vollem Halse lacht Rilke nur auf einem Foto, ansonsten hat er ein angemessen ernstes Gesicht aufgelegt. Kutschis pickt sich ein besonders interessantes Exemplar heraus: „Im Bildoriginal sieht man Rilke mit seiner Frau Clara, die in den späteren Vergrößerungen radikal weggeschnitten wurde. Übrig blieb ein heute ikonisches Porträt von Rilke.“ Das ist aus gendersensibler Sicht natürlich heikel.

Ausstellung zum 150. Geburtstag

Die Bibliothekarin weist auf einen weiteren Aspekt hin: „Die Beziehung Rilkes zu seiner ehrgeizigen Mutter war problematisch. Durch den frühen Verlust von Rilkes Schwester schwer getroffen, kleidete die Mutter Sophie Rilke den kleinen René in den ersten Lebensjahren als Mädchen. Der Kontrast zwischen den Bildern ist faszinierend: hier Rilke im verspielten Kleidchen, dort in der strengen Uniform der Militärakademie.“

Selbst beim Kurzstreckenlauf durch den Rilke-Schatz spürt man schon deutlich, dass der Marathon der Erfassung den allgemeinen Blick auf den Dichter durchaus verändern könnte. „Im Nachlass steckt thematisch noch viel Material, Rilke und die Frauen zum Beispiel“, sagt Kutschis, und streift sich – endlich – weiße Handschuhe über, um die sensiblen Zeichnungen nicht zu beschädigen.

Sanft wird der Besuch nun ins benachbarte Literaturmuseum geleitet, damit man nicht weiter stört bei der Erschließung, die 2025 abgeschlossen sein soll. Zum 150. Geburtstag des Dichters soll dann eine große Ausstellung stattfinden. Die Reise zum Mittelpunkt von Rilkes Werk hat gerade erst begonnen.

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