Für Opfer von Straftaten sind Zeugenaussagen nach wie vor ein Hürdenlauf. Die Hilfsorganisation Weisser Ring will das Problem jetzt mit Unterstützung der Chefs von Bundeskriminalamt und Bundesanwaltschaft erneut angehen.

Wiesbaden - Problem erkannt, Gefahr gebannt - der Spruch scheint für Opfer von Straftaten wenig Wirkung zu entfalten. Zwar ist in Deutschland bereits 1986 ein Opferschutzgesetz verabschiedet worden, und 2012 kam auch auf europäischer Ebene eine entsprechende Richtlinie hinzu. Doch Experten sind sich einig: Opfer von Straftaten und ihre Angehörigen haben es bei Aussagen vor Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht nach wie vor schwer. Die Hilfsorganisation Weisser Ring will das Problem jetzt mit Unterstützung der Chefs von Bundeskriminalamt (BKA) und Bundesanwaltschaft erneut angehen: Ein Forschungsvorhaben soll ergründen, warum die bisher ergriffenen Maßnahmen offensichtlich wenig Wirkung zeigen, und was an weiterer Hilfe sinnvoll wäre, erläuterte die Vorsitzende der Stiftung, Roswitha Müller-Piepenkötter.

 

Ein Expertengespräch am Donnerstag in Wiesbaden ergab bereits einen ersten konkreten Vorschlag: Schon die erste Aussage der Betroffenen vor der Polizei soll gerade bei strittigen Strafverfahren, beispielsweise bei Sexualdelikten, besser als bisher dokumentiert werden, am besten durch eine Videoaufnahme. Auch BKA-Präsident Jörg Ziercke machte sich die Forderung bei der vom Weissen Ring ausgerichteten Diskussion sofort zu eigen. Denn dann liefen die Opfer weniger Gefahr, dass angebliche Widersprüche zwischen der ersten Vernehmung und der Zeugenaussage im Strafprozess konstruiert und die Betroffenen weiter verunsichert oder gar abgeschreckt werden, argumentierten die vom Weissen Ring eingeladenen Expertinnen.

Die Probleme der Opfer sollen besser erforscht werden

Auch Generalbundesanwalt Harald Range plädierte für mehr Sensibilität bei Zeugenaussagen von Menschen, die selbst Opfer einer Straftat wurden oder dabei einen Angehörigen verloren haben. Denn andernfalls bestehe auch die Gefahr, dass weniger dieser Straftaten überhaupt angezeigt und gerichtlich aufgearbeitet werden. Denn „Opfer machen sehr wohl eine Kosten-Nutzen-Analyse, bevor sie sich zur Strafanzeige entschließen“, berichtete der in Karlsruhe ansässige oberste Ankläger. Und er unterstützt deshalb auch das Vorhaben, dieses Thema weiter zu erforschen. Das könne letztlich auch zu einer besseren Beratung der Justiz in Fragen des Opferschutzes führen.

Dass die notwendig ist, machten die Opferanwältin Angelika Vöth, die Psychologie-Professorin Renate Volbert und die Psychotherapeutin Christine Knaevelsrud mit Beispielen aus ihrer Berufspraxis deutlich. Schon, dass in einem erkennbar längeren Prozess alle Zeugen gemeinsam morgens einbestellt werden und dann ohne jede Betreuung oft stundenlang warten müssen, bis sie an der Reihe sind, hält Rechtsanwältin Vöth für ein Unding. „Da sitzen sie dann wie auf dem Präsentierteller für Angeklagte und Presse.“ Hochschullehrerin Knaevelsrud nennt die psychische Belastung der Opferzeugen nach wie vor groß, viele bräuchten professionelle Hilfe. „Es geht um ihr Selbstwertgefühl und ihr Vertrauen in die Welt“. Viele empfänden es bei den Ermittlungen oder im Prozess so, dass dem Täter mehr geglaubt werde als dem Opfer.

Zeugen sitzen bei Gericht oft auf dem Präsentierteller

Vom Gefühl der Betroffenen, sie müssten erst einmal beweisen, dass sie wirklich ein Opfer sind, berichtet die Psychologin Volbert. Auch sie erhofft sich von dem neuen Forschungsvorhaben Aufschluss. „Wie kommt es zu der Diskrepanz, dass viel für Opferschutz getan wird, aber sich die subjektive Belastung der Betroffenen kaum verändert hat?“, fragt sie. Gut gemeint sei eben nicht immer auch wirklich gut, sagt jemand in der Diskussion mit dem Publikum. Selbst die vom Prozess abgetrennte Videobefragung von Kindern erweist sich in der Praxis nicht immer als hilfreich. Vielfach müssten sie dann im Gerichtsverfahren doch noch einmal aussagen, und so bedeute die Neuerung nur, dass die Kinder zweimal an der Reihe sind, argumentierte die Psychologin.

Doch auch BKA-Präsident Ziercke stieß mit einer Mahnung vor falschen Erwartungen auf Zustimmung: Bei der Aufklärung von Straftaten geht es oft um Schnelligkeit. Die Aufklärung von Verbrechen werde nach einer Woche immer schwieriger. Und von den Ermittlungen könne gerade das persönliche Umfeld nicht ausgenommen werden. Doch: „ein Patentrezept für die Vernehmungen gibt es nicht. Jeder Fall ist anders, da ist Fingerspitzengefühl gefragt“, beschreibt der BKA-Chef die Herausforderung. Und niemand widersprach ihm.