Jeden Monat wird woanders repariert
Der junge Mann mit dem bunten Damen-Trekkingrad heißt Matin – wie Martin ohne R –, ist 25 Jahre alt und studiert in Stuttgart. Er erklärt: Sein Ticket für den ÖPNV gelte erst ab abends, darum wolle er tagsüber künftig mehr Rad fahren. Zuletzt scheiterte dies jedoch an einer kaputten Kette. Bereits zweimal habe er eine neue Kette gekauft und dann versucht, sie selbst zu montieren. Zweimal hat er die Ketten dabei „zerstört“, wie er sagt. Nun will er sich Hilfe holen.
An einem Abend pro Monat bieten Radfahrer und Hobbybastler in Stuttgart Hilfe zur Selbsthilfe an: Sie zeigen Menschen, wie sie ihr Fahrrad selbst reparieren können. Das Besondere daran: Einerseits ist das Ganze gratis. Andererseits ist die Radwerkstatt mobil. Jeden Monat ändert sich der Ort, an dem die Ehrenamtlichen ihre Station aufbauen.
Platten, Bremsen, Schaltung: Das sind die Standardanliegen
Das Ganze ist ein Projekt der Hochschule für Technik (HfT). Beim dortigen Nachhaltigkeitstag im Sommer 2022 entstand die Idee, eine Pop-up-Radwerkstatt anzubieten, sagt Amando Reber, wissenschaftlicher Mitarbeiter der HfT und einer der Ehrenamtlichen. Parallel habe eine Studentin gesagt, dass sie gerne einmal ein Lastenrad komplett selbst bauen würde. Die beiden Vorhaben wurden kombiniert: Die Studentin baute das Lastenrad exakt nach den Bedürfnissen, die eine Fahrradwerkstatt braucht, um überall unterwegs zu funktionieren; also mit genügend Ladefläche für Werkzeug, Fahrrad-Ersatzteile und Reparier-Ständer. „So kam eines zum anderen“, sagt Amando Reber.
Die Fragen und Defekte, mit denen die Menschen zu ihnen kommen, seien völlig unterschiedlich, sagt Elena Schön, eine weitere Ehrenamtliche, die hauptberuflich im Gründungszentrum der HfT arbeitet. Die Standardanliegen wären Platten flicken, Bremse und Schaltung einstellen, Reifen wechseln und Bremsbeläge austauschen. „Es kommen auch immer wieder Leute, für die Reifen aufzupumpen oder einen Schlauch zu wechseln etwas Neues ist.“ Andere wiederum wollten sich ein Rennrad ganz neu zusammenbauen und benötigten dabei Unterstützung. „Manche können selbst richtig viel, aber ihnen fehlt das passende Werkzeug zu Hause“, weiß sie. Und die jüngste Kundin sei mit einem Laufrad vorbeigekommen.
Es wird keine Haftung übernommen
Wichtig zu wissen ist, dass die Ehrenamtlichen keine Haftung übernehmen. Und sie wollen schon aus rechtlichen Gründen nicht alleine ein Fahrrad von jemand anderem reparieren – sondern die Menschen, die vorbeikommen, sollten hauptsächlich selbst schrauben. Dabei bekommen sie aber eine ziemlich professionelle Anleitung.
Amando Reber betreibt neben seinem Job an der HfT nämlich auch schon eine ehrenamtliche Radwerkstatt in Nürtingen (Kreis Esslingen). Spezialkenntnisse seien jedoch gar nicht nötig, um sich bei ihnen zu engagieren, betont Elena Schön. „Es reicht, wenn jemand einen Platten reparieren und Bremsklötze austauschen kann.“ Sie selbst habe etwa noch nicht so viel Ahnung vom Schrauben, aber könne dafür gut organisieren. Deshalb nehme sie alle Menschen in Empfang.
Ehrenamtliche wollen etwas für die Stadtgesellschaft tun
Und was treibt die Ehrenamtlichen an, abends nach Feierabend noch Fahrräder zu reparieren – manchmal auch bei Regen oder in der Kälte? „Der Großteil von uns arbeitet in der Forschung und viele im Bereich Städte- und Quartiersplanung“, sagt Elena Schön. Da gehe es weniger um das große Geld, dafür bestehe aber eine gewisse Begeisterung dafür, etwas für die Stadtgesellschaft zu tun.
Wenn Studierende bei der Radwerkstatt mitmachen, bekommen sie dafür Credit Points, also Punkte für ihr Studium. Und alle anderen Fahrrad- und Bastelbegeisterten sollten sich einfach per E-Mail bei ihnen melden, dann würden sie in die Whatsapp-Gruppe aufgenommen werden, sagt Elena Schön. „Wer hobbymäßig gerne schraubt und das auch gerne in Gesellschaft tut, ist bei uns richtig.“
In dem Moment kommt eine Mountainbikerin vorbei. Ihre Kette krache ständig herunter, sagt sie. Nach kurzer Zeit ist klar: Die Schaltung ist falsch eingestellt und die Kette zu lang. Einer der Ehrenamtlichen nimmt zwei Kettenglieder heraus. Außerdem stellt er Achter im Vorder- und im Hinterrad fest.
Daneben die nächste Hilfesuchende: Eine Frau mit einem Gravelbike klagt, dass ihr Sattel immer nach vorne kippe. Es stellt sich heraus: Der Sattel ist der falsche für sie, es handelt sich um ein Exemplar für Männer mit anderer Statur. Ihr wird geraten, in einem Fahrradladen den Abstand zwischen ihren Sitzknochen ausmessen zu lassen – „das geht ganz schnell“ – und sich einen passenderen Sattel zuzulegen. Zufrieden nickt sie und zieht weiter.
Dann ruft Matin, der 25-jährige Student mit dem Damen-Trekkingrad: „Mann, endlich!“ Beim dritten Versuch hat es geklappt: Seine neue Kette ist montiert. Ohne dass etwas kaputtging. Er pumpt noch etwas Luft in seine Reifen. Dann radelt er davon.
Nächster Termin ist unter der Paulinenbrücke
Standorte
Im Sommer gastierten die Ehrenamtlichen mehrfach bei der Festivalzentrale der Internationalen Bauausstellung (IBA ’27) an der Königstraße. Beim jüngsten Termin im Oktober haben sie sich die Eberhardstraße ausgesucht. Am Donnerstag, 14. November, wollen sie von 17 bis 19 Uhr unter der Paulinenbrücke an der Tübinger Straße Räder reparieren. „Und wir könnten uns künftig auch Jugendhäuser, Geflüchtetenunterkünfte und Stationen in den Randbezirken vorstellen“, sagt Amando Reber, einer der Ehrenamtlichen. Den Ort für den nächsten Termin findet man immer online unter radwerkstatt.hft-stuttgart.de/. Dort kann man sich auch zu einem Newsletter anmelden, in dem man über die nächsten Termine rechtzeitig informiert wird.
Auszeichnung
Kürzlich hat die Radwerkstatt 0711 den zweiten Platz bei einem Wettbewerb gemacht, der #jetztklimachen-Verleihung der Stadt Stuttgart. Von den 2000 Euro Preisgeld wollen sie nun einen Verein gründen, rechtliche Fragen rund um die Radwerkstatt von einem Experten klären lassen sowie sich noch mehr Reparier-Ständer und Werkzeug zulegen.