In den Ballungsräumen wird das Fahrrad zum Trend-Vehikel. Vor allem jüngere Leute lassen sich von der Vielzahl der Modelle begeistern. Die Fahrradmesse Eurobike ist das Schaufenster für die neue Eleganz urbaner Mobilität.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Martin Gerstner (ges)

Friedrichshafen - Es gab Zeiten, da fuhr man Rad, um irgendwie zum Einkaufen, zur Uni oder in die Schule, danach in die Kneipe zu kommen. Die Tretlager stöhnten, die Kette gab Geräusche von sich, die an kratzende Kinderhände auf einer Schiefertafel erinnerten, der Dynamo fräste knurrend den Reifen ab und spendete so viel Licht wie eine Friedhofskerze. Daneben gab es eine eingeschworene Szene von Rennradfahrern, die auf sportliche Härte setzte. Gefragt war nicht exklusive Technik, sondern die Fähigkeit, 170 Kilometer zu fahren, ohne zu pinkeln.

 

Erinnerungen an diese düstere Ära der Fortbewegung mit Muskelkraft muten heute an wie die Berichte alter Frontsoldaten. Sie sind weit entfernt vom Zeitgeist, der das Fahrrad wiederentdeckt, ja wiedererfunden hat und als Kultobjekt, als zeitgemäßes, schickes Vehikel urbaner Mobilität, als Statussymbol definiert. Der beste Beleg für diesen Trend ist die Eurobike in Friedrichshafen, die sich als „weltweite Leitmesse“ versteht. Zum Eröffnungstag, dem kommenden Mittwoch, wird sogar Kanzlerin Angela Merkel erwartet. Mehr als 1000 Aussteller aus 54 Ländern sind in Friedrichshafen präsent. Die Eurobike zeigt einerseits beeindruckend, auf welchem technischem Niveau die Zweiradbranche angekommen ist. Aber sie verströmt jenseits aller Fachsimpeleien über Ritzelpakete, Federgabeln, Scheiben- bremsen, Leistungsmesser und Elektromotoren ein neues Lebensgefühl urbaner Mobilität.

Dieses Gefühl dringt von den Metropolen in die Fläche vor. Zuerst waren es Radkuriere, die auf selbst gebauten Retrorädern ohne Schaltung und Bremsen durch die City rasten. Das schien cool, auch wenn es zu massiven Kollisionen mit anderen Verkehrsteilnehmern kam. Auf den Trend zum Urban-Bike, also dem modernen Stadtrad, sprangen danach fast alle großen Hersteller auf. Pioniere waren aber kleine Manufakturen wie Pasculli, gegründet von Christoph Hartmann, dem zweiten Oboisten der Berliner Philharmoniker und begeisterten Rennradfahrer. Seine Räder sind technisch hochwertig, verkauft aber werden sie vor allem über das Design.

Fahrräder werden zu Kultobjekten

Wer die „Villa Pasculli“ in Berlin oder andere schicke Rad-Stores besucht, ist kein Kampfradler, nicht immer ein technikverliebter Experte, sondern ein großstädtischer Weltbürger. Er fühlt sich weit entfernt von den nach Gummi und Schmieröl riechenden Werkstatt-Wohnzimmern früherer Tage. So präsentiert auch das Shopkonzept Stilrad seine Fahrräder als lichtumflutete Designerstücke in Berlin, Frankfurt, Wien und Zürich. Die Räder ruhen auf bestrahlten Podesten oder hängen an der Decke. In Regalen liegen Accessoires wie Radmützen mit der Anmutung einer russischen Pilotenkappe oder die neueste Ausgabe des Magazins „fahrstil“. Dagegen wirkt sogar ein Apple-Store wie ein Reformhaus. „Auch auf der Eurobike überbieten sich die Aussteller darin, ihre Produkte schick in Szene zu setzen“, weiß Björn Gerteis, verantwortlicher Redakteur beim Magazin „Electrobike“.

Sie verkaufen nicht nur Technik, sondern ein urbanes Lebensgefühl, das sich aus einem elitären Bewusstsein für hochwertigen Konsum, Individualismus und einer leisen Verachtung für die Herdentiere des automobilen Massenverkehrs speist. Bewusst geben Hersteller wie die Firma Schindelhauer ihren Rädern keine technischen Akronyme, sondern Namen wie Viktor, Siegfried oder Ludwig VIII. Der Hersteller Elektrolyte nennt seine E-Bikes Vorradler, Brandstifter oder Querschläger. Fahrer Berlin, eine Firma, die aus recyceltem Material trickreiches Zubehör fertigt, hat eine Smartphone-Halterung mit Namen Spitzel im Programm, die iPad-Tasche Agent oder Komplize, die „Handtasche für den Radfahrer“.

Das Elektrobike rollt die Großstädte auf

E-Bikes dürfen als Motor für diese Entwicklung betrachtet werden. „Das Fahrrad hat durch das Elektrorad eine Wiedergeburt erfahren“, sagt Björn Gerteis. Ein E-Bike stehe für urbane Mobilität, sei schick und keinesfalls ein Vehikel für diejenigen, die sich kein Auto leisten können. „Ein Spitzen-E-Bike kostet schnell mal um die 6000 Euro, der durchschnittliche Verkaufspreis liegt bei 1700 Euro.“ Davon lassen sich die Kunden nicht abschrecken. Gerteis: „Wurden 2008 noch rund 11 000 E-Bikes in Deutschland verkauft, waren es 2012 rund 400 000.“ Die Konzerne wollen dabei sein. Smart baut ein Elektrorad, Bosch entwickelt Elektromotoren. „Fast jeder dritte Antrieb kommt aus Stuttgart.“ Die Käufer sind im Moment noch Ältere, die ihren Aktionsradius auswieten wollen. Das Publikum verjüngt sich aber stark, so Gerteis.

Stadtentwickler wittern in diesem Trend eine fundamentale Veränderung urbaner Mobilität. Das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation in Stuttgart definiert in einer Studie zwei Zukunftstrends: die Elektromobilität und die gemeinschaftliche Fahrzeugnutzung. Intermodulare Verkehrssysteme, also die Verzahnung verschiedener Fortbewegungsmittel, gehören dazu. Damit rangierte das E-Bike oder das normale Fahrrad irgendwann gleichberechtigt neben dem Auto. Was wie ein fernes Zukunftsszenario erscheint, ist für den Architekten und Ausstellungskurator Friedrich von Borries eine Frage des Designs. In einem Interview mit „Zeit Wissen“ sagte Borries, das mobile Verhalten der Menschen ändere sich dann, wenn ihnen eine gut gestaltete Alternative zum Auto geboten werde. Stadtplaner und Architekten müssten umdenken. Auf einem Autoparkplatz könne man acht Fahrräder unterbringen. Bahnen und Busse müssten so designt sein, dass die Fahrradmitnahme unproblematisch wird. Spürbar sei aber, dass für jüngere Menschen heute andere Dinge wichtiger seien als das Auto: eine Reise beispielsweise oder ein Smartphone.

Oder, so könnte man hinzufügen: ein Fahrrad.