Der Schmierstoff für großen Sport sind Emotionen – diese WM hatte viel davon. Das liegt auch an Jogis Jungs, die einen Monat zu Gast in unseren Wohnzimmern waren. Man kennt sich. Zum Schluss fühlt sich die Fanmeile an wie eine ziemlich große Familie.

Berlin - Ohgottohgott, der Pokal, der darf jetzt auf keinen Fall umfallen! Das wäre ziemlich peinlich, niemand würde das wollen, solche Bilder zum Schluss, hier, mitten auf der Fanmeile, die Fotografen stehen nur ein paar Meter weit entfernt, eine halbe Million Leute schaut zu, dazu noch ein paar Millionen am Bildschirm. Irgendeiner hat die schwere, goldene Trophäe vor ein paar Sekunden völlig wahnsinnig auf den Kunstrasensteg gestellt, der 20 Meter lang als Bühne in die Fanmeile hineinragt. Party statt Pathos.

 

Alles ist hier in Bewegung, die Bässe wummern, der Steg vibriert unter den Füßen hüpfender Weltmeister. Lukas Podolski, Militarymütze auf dem Kopf, zwei Zahnreihen Kölsches Karnevalgrinsen im Gesicht – Kernkompetenz: Übermut –, hebt die Trophäe auf wie einen kleinen Schoßhund. Irgendwann wandert das teure Ding weiter, zu Torwarttrainer Andy Köpke, zu Oliver Bierhoff, zu einem Mann aus dem Betreuerteam, zu Bastian Schweinsteiger, der am Ende, grinsend, leicht angegraut, mit Cut unterm Auge und müde zusammengekniffenen Lidern eine Polonaise anführt, über den Schultern eine Deutschlandflagge, so wie Indianer am Lagerfeuer eine Decke tragen.

Sie haben diesen Sieg, diesen Pokal gemeinsam geholt, dieses Wort reicht vom Masseur bis zum Man-of-the-Match-Mario-Götze, und jetzt, an diesem Dienstag, nach einer sehr langen Partynacht in Rio und einem elfstündigen Heimflug, feiert die deutsche Fußballnationalmannschaft in Berlin ihren historischen Sieg.

Die Weltmeister der Herzen

Aber um den Sieg geht es vielleicht gerade eben gar nicht alleine, jedenfalls nicht an diesem Vormittag auf der Fanmeile, sondern um ein Gefühlsgemisch, das sich mit den vergangenen Wochen verknüpft hat: Spaß, Zusammensein, sich locker machen. Weltmeister ist gut, aber genauso gut ist Weltmeister der Herzen – na ja, fast.

Hier auf der Fanmeile ist dieses Gefühl da. Man kann es groß werden lassen, wenn man es schafft, nicht zu viel nachzudenken, ein paar wirklich wichtige Hässlichkeiten wie die Profitgier der Fifa und nebenbei auch die riesige Sponsorenwerbung um einen herum auszublenden. Wenn man den ganzen Über-Ich-Überbau weglässt und sich mal keine Sorgen macht über aufkeimenden Nationalismus zum Beispiel, über die NSA oder über die Krise im Nahen Osten. Wenn man also einfach da vor dem Brandenburger Tor in der Sonne steht und ein kleines Kind anschaut mit einem ziemlich sinnlos lustigen Plüschfußballhut auf dem Kopf und daneben einen Vater sieht, der grinst, weil er glaubt, dass seine Tochter sich auch in 50 Jahren noch an diesen Moment erinnern wird.

Deutschland entspannt sein Zwerchfell

„Oh, wie ist das schön“, singen die Fans, fröhlich, ganz ohne Gebrüll, Deutschland entspannt sein Zwerchfell. Menschen aus dem ganzen Land haben sich auf den Weg gemacht. In der Nacht campieren Fans vor den Eingängen. Als um sechs die Tore öffnen, da stellen sie sich vor die Gitter an der Bühne, die Rucksäcke ausgebeult von Regenjacken und Sonnencreme und Schokoriegeln. Schon vor dem Frühstück umweht sie diese Geruchsmischung aus Chinapfanne und Dixieklos, die man sich unmöglich freiwillig aussucht.

Unter den Linden, wo sonst um diese Uhrzeit nur ein paar Polizisten mit leerem Blick die Botschaften bewachen, läuft um halb sieben Kathleen aus Hohenschönhausen entlang, an der Hand die kleine Tochter. Kathleen lebt von Hartz IV, für Public Viewing hat sie kein Geld, und eigentlich ist sie auch kein Fußballfan. „Aber mich hat das irgendwie mitgerissen, auch wie die Spieler zueinander waren, und ist ja auch historisch, wann erlebt man so was schon mal.“ Hier in Mitte war sie zuletzt vor vier Jahren, erzählt sie. „Alles voller Politiker, ist nicht mein Stück Stadt“, sagt sie, heute schon.

Kurz nach sechs Uhr gibt es schon keinen Platz mehr

„Man muss eben dabei gewesen sein“, sagt Stefan Heimsoth aus Rügen. Er hat seine Frau Sabrina und alle drei Töchter um kurz nach eins ins Auto gepackt, an Bord die volle Montur: Flaggen, Hüte, Schminke, Masken. Kurz nach sechs Uhr früh kamen sie auf der Fanmeile an. Da gab es schon keinen Platz mehr vor der Bühne. Walter ist 77 Jahre alt, er ist extra aus Mannheim angereist. Warum? „Wir sind der Mannschaft so nah gekommen.“ Jene Mannschaft schläft derweil vermutlich irgendwo über dem Atlantik in der Maschine, die von der „Fanhansa“ marketinggewieft in „Siegerflieger“ umbenannt wurde. Ob die Spieler, die wochenlang in Brasilien waren und teilweise gar nicht in Deutschland leben, überhaupt eine Ahnung davon haben, wie hier gerade alle möglichen höheren Werte auf sie projiziert werden?

Die Ankunft in Berlin jedenfalls, samt Ehrenrunde in der Luft über der Fanmeile, dürfte eine kleine Gänsehaut über diverse tätowierte Oberarme gejagt haben. Die Fans, das ist eine riesige Ansammlung, die von oben aussieht wie ein Ameisenhaufen.

Und sie kommen den Spielern sehr nah. Aus Fenstern hängen Plakate: „Jogi, ich will ein graues Haar von Dir.“ In Moabit steigen die Spieler um auf einen offenen Truck – am Untersuchungsgefängnis jubeln die Häftlinge zwischen den Gitterstäben durch, die Ausflugsschiffe auf der Spree bleiben stehen, an der Charité warten Patienten samt ihrer Infusionsständer am Straßenrand. Bauarbeiter halten auf Gerüsten inne, Polizisten reißen, statt den Verkehr zu regeln, ihre Smartphones nach oben. Am Hauptbahnhof kommt der Truck vor lauter Menschen nicht voran. Die Spieler fotografieren sich, die Menge, einander – alles wandert ins Internet, eine Flut von Bildern grinsender Menschen mit perspektivisch stark vergrößerten Köpfen. So sehen Sieger aus, seit es soziale Netzwerke gibt.

Ein Triumphzug der Sieger

Es gibt Filmausschnitte von der Heimkehr der 54er-Mannschaft, Momente, in denen das Land sich offenbar traute, seine Identität wiederzuspüren. Es sieht ein bisschen gruselig aus, als wenn Sieger in einem Triumphzug nach Hause kommen.

Was sechzig Jahre später in Berlin passiert, erinnert eher an eine Art Love-Parade mit Familienanschluss. Die Fans singen und tanzen, sie rufen „Fußballgott“ und „Wir sind die Nummer eins“ und „Schwarz und weiß, wir stehen an eurer Seite“. Und irgendwann pfeifen sie auch ziemlich laut, weil der Flug schon zwei Stunden Verspätung hatte und dann die Spieler auch noch Würstchen essen in den Räumen eines Sponsors direkt am Brandenburger Tor. Nach einer Ewigkeit des Wartens, in der die Hitze und Enge Kreislaufopfer fordern, erscheinen die Spieler auf der Fanmeile.

Zuerst kommt Jogi Löw, der Mann, mit dem wegen seiner feinen, demonstrativ unfußballerischen Ausstrahlung viele gefremdelt haben. Die Bühnenrampe, die da vor ihm liegt, das ist ganz offensichtlich nicht sein Lieblingsplatz. Da steht er, sehr zivil gewandet in dunkelblauen Chinos und Wildlederslippern, als zöge er eigentlich einen Einkaufsbummel mit anschließendem Espresso jetzt vor. Aber langsam löst er sich aus der Truppe des Trainerstabs, weil die Menge nach ihm ruft und geht fast schüchtern nach vorn.

Als dann, zu ohrenbetäubender Musik, die Spieler in Gruppen einlaufen, ist die Menge aufgepeitscht. Alle werden hemmungslos bejubelt. Und während die Spieler leicht pubertäre Scherze machen, während Miroslav Klose, André Schürrle, Mario Götze und Shkodran Mustafi zu dem EM-Song von 2008 („So gehen die Deutschen“) die unterlegenen Argentinier ein bisschen robust und politisch unkorrekt als Gauchos verunglimpfen (was natürlich im Internet sofort zu erregten Debatten führt), während Kapitän Philipp Lahm den Pokal präsentiert und seine Mannschaftskollegen sich dazu fallen lassen, wie es selbst Arjen Robben nicht besser gekonnt hätte. Während Jérôme Boateng der Menge zuruft, dass er stolz sei, ein Berliner zu sein. Während diesem ganzen Spektakel also, da sieht man Löw ein bisschen zurücktreten, an einen Platz, der so eine Art Spielfeldrand sein könnte. Ein Trainerbankplatz, auch hier. Der Mann, der die Weltmeistermannschaft konstruiert hat, lächelt nicht. Er strahlt nach innen hinein.

Löw sagt nichts zu seiner Zukunft

Auch an diesem Tag kann ihm keiner eine Antwort zu der Frage entlocken, ob er auf dieser ganz speziellen Trainerbank weitermachen wird. Aber wenn man ihn so schauen und stehen und sich freuen sieht, dann könnte man sich fast einbilden, dass Abschiede anders gehen.

Einer der schönsten Momente ist der, als die Mannschaft und die Trainer auf die Knie gehen, zu beiden Seiten des grünen Teppichs. Sie tun es für das Betreuerteam, das in diesem Moment die Bühne entert, Leute, die wochenlang Schuhe geputzt, Waden geknetet, Koffer gepackt, Buch geführt und Sonderwünsche erfüllt haben, sehr still und sehr geduldig. Auch die Betreuer sind dann Teil jener leicht hysterischen Polonaise, die wenig später den Kunstrasensteg und den darauf stehenden Pokal zum Wackeln bringt. Aus der Polonaise wird ein großer, hüpfender, wiegender, brüllender Kreis, der sich um die Sängerin Helene Fischer bildet. Was man sehen kann, ist schön, sehr einfach und selten: eine Menge sehr unterschiedlicher Menschen, die in diesem Moment zusammen eins haben: viel Spaß.