Wenn jede Stunde eine Geschichte erzählt, hat der Tag 24 Geschichten. Eben diese erzählen wir in einer Serie. Von 22 bis 23 Uhr genießen wir kurz vor Kassenschluss die nächtliche Aussicht vom Fernsehturm.
Degerloch - Der Parkplatz vor dem Fernsehturm leert sich: Kleine Grüppchen, mit Videokamera und Fotoapparat bewaffnet, machen sich auf den Weg zu ihren Autos, einige Familien mit Kindern sind darunter. Es ist 22 Uhr, die letzte Betriebsstunde ist angebrochen. Nach ein paar Minuten füllt sich der Parkplatz aber wieder: Auto um Auto fährt vor. Die Personen, die den Fahrzeugen entsteigen, sind nicht im gängigen Touristen-Dresscode gekleidet, sondern tragen schicke Kleider, hohe Schuhe oder Sakko mit Bügelfaltenhose. An der Kasse hat sich bereits eine kleine Schlange gebildet, und auch der Aufzug bei der Fahrt auf 150 Meter ist proppenvoll.
Selfies in Ausgehkleidung
„È bellissima!“ entfährt es einer italienischen Besucherin, als sie den ersten Blick auf die Lichter Stuttgarts von oben erhascht. Sie und ihre Begleiter zücken gleich die Handys und fotografieren sich gegenseitig vor der nächtlichen Kulisse. Anderswo wird zwar ebenso fleißig fotografiert und kollektiv „Ah“ und „Oh“ geraunt, allerdings heißt es da auch: „There is no internet up here!“ Das Selfie muss also später gepostet werden.
Neben den Grüppchen sind auch viele Pärchen da. Eines der Zweiergespanne steht eng umschlungen an der Brüstung, sie krault ihn hinterm Ohr und sagt: „War eine super Idee von dir, Schatz, jetzt herzukommen.“ Der Fernsehturm ist offensichtlich beliebt für romantische Stelldicheins: Da ist das Pärchen, das, mit Einkaufstüten bepackt, nach dem Tag in der Innenstadt auf dem Heimweg noch einen Abstecher nach Degerloch gemacht hat. Oder die beiden in Ausgehkleidung: Sie balanciert mit ihren Stilettos auf der Gitterstufe vor einem der Fernrohre, damit er ein möglichst schönes Foto von ihr machen kann. Aber zu lang darf es nicht dauern: „Wir müssen jetzt los, sonst fängt die Party ohne uns an.“
Das beliebte Spiel „Können wir unser Haus vom Fernsehturm aus sehen?“ funktioniert übrigens auch bei Nacht: Ein Mann versucht, mit dem Taschenlampenlicht seines Smartphones das Panoramarelief zu erhellen, um nachzusehen, ob er auch an der richtigen Stelle schaut.
Im Café wird noch nicht geknutscht
Im Panorama-Café sind fast alle Tische an den Fensterfronten besetzt. Man trinkt Aperol Spritz oder isst ein spätes Stück Kuchen. Geknutscht wird hier aber nicht – oder vielleicht noch nicht.
Im Aufzug nach unten ist ein kleiner Junge ganz aufgeregt, wie schnell die Zahl von 150 Stockwerke auf 0 springt. Unten angekommen ist der Durchgang zum Souvenirladen bereits geschlossen. Wer jetzt noch einkaufen wollte, hat Pech gehabt. Der einzige Weg führt nach draußen in die Samstagnacht. Der kleine Junge macht ein paar Schritte nach der Ausgangstür halt und schaut andächtig den Turm hinauf. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass wir ganz dort oben waren“, sagt er.
Im Restaurant Leonhardts sitzen nur noch einige Hartgesottene an den Tisch und leeren ihre Gläser. Spielplatz und Biergarten sind verwaist. Kurz vor dem Parkplatz sitzen einige Jugendliche auf Bänken und starren gebannt auf ihre Handys. „Jetzt aber los nach Downtown“, sagt einer, und das Grüppchen macht sich auf den Weg in Richtung Stadtbahn-Haltestelle.
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